ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sergej Shurawljow, Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion. Das Schicksal deutscher Facharbeiter im Moskau der 30er Jahre, Ch. Links Verlag, Berlin 2003, 189 S., brosch., 17,90 EUR.

In ihrer langen Geschichte ist die Sowjetunion nur einmal von Einwanderern aus Westeuropa regelrecht überrollt worden: Beginnend in den 20er Jahren, entwickelte sich die Immigration in die Sowjetunion während der frühen 30er Jahre, von staatlicher Seite eingefordert, unterstützt und begleitet, zu einem Massenphänomen. Deutschland, aber auch Österreich, waren die überwiegenden Herkunftsländer, vor allem wegen der ausgeprägten Arbeitslosigkeit, aber auch aufgrund gezielter Anwerbung dort. Das Titelbild des Buches "Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion" von Sergej Shurawljow zeigt, wie sich unzählige junge Arbeiter, allesamt mit Mützen "à la bolshevique" um zwei Frauen scharen, die, wie es scheint, nicht nachkommen, die Ausreisewilligen zu registrieren. Auch die innen auf der Umschlagseite abgebildete Abfahrt eines Auswandererzuges aus Essen in die Sowjetunion, wo sich lachende Arbeiter an die Abteilfenster drängen, um sich von Familie und Freunden zu verabschieden, macht diesen "Run" deutlich.

Der Enthusiasmus der Einwanderer wurde jedoch innerhalb weniger Jahre herb enttäuscht: viele der ausgewanderten Facharbeiter kehrten zurück und fielen der nationalsozialistischen, antisowjetischen Propaganda und der Verfolgung in die Arme. Diejenigen, die blieben, wurden Opfer des stalinistischen Terrors. Die viel versprechenden Anfänge der ausländischen Facharbeiter in der Sowjetunion entwickelten sich am Vorabend des zweiten Weltkriegs zu einer Tragödie.

Seit einigen Jahren können immer mehr Einzelheiten dieser tragischen Geschichte erzählt werden, vor allem aufgrund des Zugangs zu sowjetischem Archivmaterial. Für seine Studie, die sich auf das Moskauer Werk "Elektrosawod", den größten elektrotechnischen Betrieb der Sowjetunion konzentriert, konnte der russische Historiker Shurawljow unzählige Archivmaterialien auswerten und so einige neue Erkenntnisse zu Tage fördern. Stark gekürzt, mit der Beschreibung vornehmlich der deutschen Auswanderer auf die deutsche Leserschaft zugeschnitten, richtet sich die Übersetzung seiner 2000 in Moskau erschienenen Monographie[1] an einen breiten Leserkreis, den anschauliche Sprache und zahlreiche Bilder unterhalten und weder Einleitung noch umfangreicher Anmerkungsapparat abschrecken sollen.

Der Blick auf die Moskauer Ausländer in ihrem konkreten Arbeits- und Lebensumfeld ergänzt die in letzter Zeit erschienenen Studien, etwa die von Carola Tischler[2], die einen systematischen, ebenfalls auf bisher unbekanntes Archivmaterial gestützten Überblick über die Emigration in die Sowjetunion gibt, dabei vor allem das Umfeld der politischen Emigranten und der Komintern im Blick hat; sowie die kollektivbiographisch angelegte Studie von Auswanderern aus dem Ruhrgebiet in die Sowjetunion von Wilhelm Mensing, in der aufgrund der vorherrschenden Berufsstruktur im Ruhrgebiet vor allem die in Bergwerksregionen in der Ukraine (Donezker Becken) oder in Sibirien (Kusnezker Becken) ausgewanderten Bergarbeiter beschrieben werden, deren gründlich recherchierte Einzelschicksale sich zu einer Gesamtgeschichte, zu einem Leidensweg "Von der Ruhr in den GULag" vereinen[3]; oder den zuletzt veröffentlichten, auf eigenen Erinnerungen und den Tagebuchberichten eines später verhafteten italienischen Arbeiters basierenden Bericht des US-Gewerkschaftlers Victor G. Reuther über die ausländischen Arbeiter an den Autowerken in Gorki (Niznij Novgorod) [4].

Das Besondere des Buches von Shurawljow liegt nun einerseits daran, dass es sich hier um die erste Fallstudie eines russischen Historikers zum Thema ausländische Arbeiter handelt – nach der auch auf deutsch vorliegenden Studie von Oleg Dehl über deutsche, meist "politische" Emigranten in der Sowjetunion. [5] Der russische Blick auf die Ausländer im eigenen Land lässt eine andere Sicht auf das Phänomen der Emigration als die "nationale" Emigrationsforschung erhoffen, der es, neben dem "Auffinden" von Verschollenen, um die Rekonstruktion der "Emigrationswelt" geht, in der die Umgebung häufig nur aus der Wahrnehmung der Emigranten beschrieben wird. Diese andere Sichtweise war auch der Originalausgabe eigen. In ihr wird betont, der mikrohistorische Blick gerade auf die ausländischen Arbeiter, die mit einem anderen Erfahrungshintergrund nach Russland kamen, könne neue Aufschlüsse über das sowjetische Alltagsleben geben. In der deutschen Übersetzung des Buches von Shurawljow, in dem die Einleitung – unerklärlicherweise - vollständig der Kürzung zum Opfer fiel, wird dieses spezifische Erkenntnisinteresse jedoch nicht mehr deutlich: Hier ist der Fokus wieder auf die ausländischen Arbeiter verengt. So wird immer wieder hervorgehoben, dass diese bis weit in die 30er Jahre hinein in einer Art "deutschen Insel" lebten. Deutlicher Ausdruck für diese Abgeschlossenheit ist der Klub für ausländische Arbeiter in Moskau, der an mehreren Stellen beschrieben wird: Hier war eine Art "ausgelagertes Wohnzimmer" der in beengten Wohnverhältnissen lebenden Ausländer, wo sie sich zu Veranstaltungen und Zirkeln, aber auch einfach zum geselligen Austausch trafen. Die Ausländer, die in der Mehrzahl schlecht russisch sprachen, blieben hier unter sich. [6]

Dass sich diese "Inselbewohner" dennoch stark an die sowjetischen Gepflogenheiten anpassten und das stalinistische Wert- und Normensystem übernahmen, ist jedoch ein interessanter Nebenaspekt der Studie Shurawljows. Anhand mehrerer Einzelbeispiele, häufig auf der Grundlage der sehr eingeschränkt zugänglichen Materialien aus russischen Geheimdienstarchiven recherchiert, macht er deutlich, wie sehr die Einwanderer das sowjetische Spiel der Hierarchisierung und Bewertung sozialer Beziehungen mitspielten. Man nutzte die eigenen Beziehungen, um einen besseren Lohn zu erzielen, was angesichts zunehmender Lohnkürzungen und –entwertungen bei vermehrter Arbeitsbelastung aus der Rückschau mehr als verständlich erscheint. Wenn die Emigranten auch selten die russische Sprache lernten, so lernten sie möglicherweise die sich im Stalinismus ausprägenden, typisch "sowjetischen" Verhaltensmuster besser als bisher vermutet. [7]

Shurawljow beschreibt in fünf Kapiteln anschaulich und allgemein verständlich den Weg der Einwanderer in den stalinistischen Terror: Von den ersten Versuchen des Einsatzes ausländischer Facharbeiter in den 20er Jahren, zu der verstärkten Anwerbung in den 30ern, über die Schilderung des Alltags in den 30er Jahren – zwischen Sorgen und Enttäuschungen, aber auch Auszeichnungen und Erfolgen - bis in den Terror, zu Verhaftung, Ermordung oder Ausreise in das nationalsozialistische Deutschland.

Gerade die "Erfolgreichen", die mit Prämien bedachten ausländischen Stoßarbeiter, deren Schicksal auch mit Blick auf das Ausland propagandistisch aufgearbeitet worden war, waren während des Großen Terrors in besonderem Maße der Verfolgung ausgesetzt: Ihre Anpassung an das sowjetische Leben, ihre Aufopferung und ihr Engagement galt den NKWD-Behörden als gelungene Tarnung, die Höchststrafen nach sich zog.

Besonders makaber ist in diesem Zusammenhang das Schicksal der in einer Art Rahmenhandlung beschriebenen Pioniere der ausländischen Arbeiter im Elektrowerk: Willi Koch, Franz Heisler und Hans Ohlrich, kommunistische Arbeiter bei Osram und AEG in Berlin, die in einem von der sowjetischen Wirtschaftsspitze initiierten Industriespionage-Coup Details über die Herstellung von Wolframdraht nach Moskau lieferten. Sie leisteten damit einen entscheidenden Beitrag, um die Glühbirne "Ilitschs Lämpchen", die nach Lenins markantem Ausspruch "Sowjetmacht = Kommunismus + Elektrifizierung" als Symbol von Aufklärung und Fortschritt auch in die letzte Bauernhütte gebracht werden sollte, als sowjetische Produktion leuchten zu lassen. Die vom Kommunismus überzeugten Arbeiter, die schließlich, als ihnen in Deutschland die Aufdeckung ihrer Spionagetätigkeit drohte, in die Sowjetunion emigrierten, ereilte 10 Jahre später ein trauriges Schicksal: Während des Großen Terrors 1937 wurden sie als vermeintliche Spione des nationalsozialistischen Deutschlands verhaftet und zu langjähriger Lagerhaft verurteilt.

Im Zuge der Übersetzung und der Anpassung an eine deutsche Leserschaft sind dem Buch der "rote Faden" und die Wissenschaftlichkeit etwas abhanden gekommen. Unverständlich ist u.a. die vollständige Streichung der Einleitung. Dennoch liegt hier ein äußerst lesbares Buch vor, das mit umfangreichem Glossar und biographischem Anhang – allerdings ohne Bibliographie oder weiterführende Literaturhinweise – einen anschaulichen Einstieg in ein komplexes Thema bietet.

Julia Landau, Bochum





Fußnoten






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