ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Rudolf Wahl, Die Religion des deutschen Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zur Literatur des Kaiserreichs: Felix Dahn, Ernst von Wildenbruch, Walter Flex (= Neue Bremer Beiträge, Band 12), Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2002, 357 S., kart., 50 EUR.

Spätestens seit dem 43. Deutschen Historikertag in Aachen ist offensichtlich, dass die konstruktivistische Wende der Nationalismusforschung gerade die jüngere Generation deutscher Neuzeithistorikerinnen und –historiker prägt. Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard haben die beachtlichen Ergebnissen der Aachener Sektion "Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich" 2001 als Sammelband vorgelegt und damit zugleich die praktische Umsetzbarkeit konstruktivistischer Nationalismenforschung in ein vergleichendes Forschungsprogramm unter Beweis gestellt. Dabei konnte unspektakulär auch manches aus dem Methodenkanon deutscher Nationalismusforschung anhand konkreter Vergleiche in Ehren verabschiedet werden: der faktenüberwindende Glaube an die Macht der Nationalstaatstypologie und an die Unterscheidbarkeit von "konservativem" und "progressivem" Nationalismus, das orthodoxe Beharren auf der funktionalen Interpretation des Phänomens Nationalismus im unvermeidlichen Soziolekt der Modernisierungstheorie. Doch nicht jeder Autor, der sich an der Spitze des kulturgeschichtlich-konstruktivistischen Trends, oder, um es mit Wehler zu sagen: als Mitkämpfer im "Duell zwischen Sozial- und Kulturgeschichte" sieht, kann halten, was er verspricht.

Hans Rudolf Wahls Arbeit über die nationalismusgeschichtliche Relevanz ausgewählter Literatur des Kaiserreichs hat drei Teile. Auf eine einundzwanzigseitige "Einführung in den Problemkreis" des deutschen Nationalismus folgen im Hauptteil die im wesentlichen werksbiographisch und motivkundlich konturierten Essays über Felix Dahn, Ernst von Wildenbruch und Walter Flex, die jeweils zusammengefasst werden. Am Ende steht ein siebenseitiges Fazit "Zur Ästhetik des deutschen Nationalismus im Kaiserreich". Untersuchungsgegenstände von Wahls Arbeit sind "Schriftsteller als Promotoren eines mythologisch überhöhten, sich im Laufe der Zeit immer stärker radikalisierenden Nationalismus; Literatur als Medium nationalistischer Agitation". (S. 13) Insbesondere interessiert sich Wahl für "Mythen (...), die als charakteristische Merkmale der politischen Kultur ihrer Epoche angesprochen werden können: de[n] Germanenmythos der Gründerzeit, de[n] Bismarckmythos um 1900, die Bündelung und Modifikation verschiedener Mythen im Ersten Weltkrieg und im Übergang zur Weimarer Republik". (ebd.)

Erkenntnisinteresse seiner Fallstudien zu Dahn, Wildenbruch und Flex ist es, "empirisch auszuloten, wie wir uns die Matrix des deutschen Nationalismus im Kaiserreich vorzustellen haben" (S. 29), und zwar anhand der folgenden Leitfragen: "Welchen Stellenwert besaß bei der Genese des Nationalismus die Inszenierung poetischer Traumwelten? Wie wurden diese Traumwelten entwickelt? Wie haben sie gewirkt? Und welche Breitenwirkung hatten sie? Welche Rolle spielten die kulturellen Eliten und insbesondere die Schriftsteller in diesem Prozess?" (ebd.). Ein so explizites Forschungsprogramm fordert zum Vergleich mit den von Wahl vorgelegten Ergebnissen heraus, zumal der Autor von seiner eigenen Arbeit sagt, sie biete "konzise Nachweise" (S. 364) für die nationalisierenden Effekte künstlerischer Produktion und stehe in methodischer Hinsicht für den "Schritt in wissenschaftliches Neuland". (S. 402) Diese überraschenden Erkenntnisfortschritte näher zu betrachten, ist lohnend: "Literatur", so Wahl, "war im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert kein kulturgeschichtliches Aperçu, sondern neben Musik, bildender Kunst und, später, dem Film ein zentrales Medium des Nationalismus" (S. 363). Dies ist, seit den im Literaturverzeichnis Wahls aufgeführten Arbeiten von Karl Wolfgang Deutsch und Ernest Gellner, eigentlich schon seit der Diskussion um die aufschlussreichen Brüche und Kontinuitäten in der politischen Biographie Thomas Manns wahrlich so neu nicht, von der zentralen Bedeutung der Literatur für den ebenfalls immer wieder von Wahl angeführten imagined community-Ansatz Benedict Andersons ganz zu schweigen. Räumen Deutsch, Gellner, Anderson und die von diesen beeinflusste integrierend konstruktivistisch-sozialgeschichtlichen Forschungen z.B. Dieter Langewiesches der Literatur keine "Schlüsselfunktion" (S. 364) im Rahmen des nation building ein? Tatsächlich neu für die Nationalismusforschung allerdings ist es, das "angemessene[...] literaturwissenschaftliche[...] Instrumentarium[...]"als "notwendige Voraussetzung" zu verstehen, "wenn man sich über die Eigenart des historischen Phänomens Nationalismus Aufschluss verschaffen möchte." (ebd.) Selbst die exponiertesten Apologeten wie auch immer zu definierender kulturwissenschaftlicher Perspektiven würden diesen Schritt eines unfriendly takeover der Geschichts- durch die Literaturwissenschaft nicht mittragen wollen. Wiederum möchte man fragen, welche inhaltlichen Ergebnisse Wahl zu solchen radikalen methodischen Schlüssen berechtigen, die den modischen Affekt gegen sozialhistorische Perspektiven einerseits (S. 363 f.), die werkimmanente Interpretationskultur der Literaturwissenschaft andererseits (S. 402) mit einem besonders gewagt-avantgardistischen Methodenbewusstsein verwechseln. Wahl sieht seine Ergebnisse vor allem auf zwei Ebenen, einer "intentionalen" und einer "funktionalen". Intentionales Ergebnis: "Schriftsteller waren neben anderen Künstlern Mitstifter der großen modernen Religion des Nationalismus. Durch ihre Fähigkeit, Sprache künstlerisch zu formen, vermochten sie die Phantasie ihrer Leser sowie Zuhörer anzuregen, Emotionen hervorzurufen und damit nationale Identität zu generieren." (S. 364) Funktionales Ergebnis: "Der kulturelle Nationalismus war im Kern ein bürgerliches Phänomen. (...) Wir haben hier jene Schnittstelle vor Augen, die das Verhältnis der kulturellen Eliten zur ganzen Nation bestimmte." (S. 365) Ständen dieser Ansammlung von kulturalistisch verbrämten Allgemeinplätzen, undurchdachten Begriffen und missverstandenen Versatzstücken historischer Forschung nicht die drei Fallstudien zu Dahn, Wildenbruch und Flex gegenüber, aus denen sich solche Rundumschläge allerdings keineswegs ableiten lassen, bliebe nicht mehr viel, worüber sich ernsthaft diskutieren ließe.

Die strukturellen, konzeptionellen Probleme dieser Arbeit werden schon im Einleitungsteil deutlich. Wahl begnügt sich damit, zentrale erkenntnisleitende Begriffe wie Mythos, Religion und Ideologie in drei kurzen Absätzen zu behandeln und ignoriert die strukturgeschichtlichen Problemlagen zugunsten fragwürdiger begrifflicher Definitionsversuche. Dass die Geschichtswissenschaft eine sich in Kontroversen entwickelnde Wissenschaft mit deutlich voneinander verschiedenen Positionen und Schulen ist, dass hinter Begriffen wie Mentalität und hinter umstrittenen Interpretationen wie der des Nationalismus als Religion bzw. Religionsersatz profilbildende Auseinandersetzungen um Theoriebildung und praktische empirische Forschung stehen, ist dem Germanisten Wahl offenbar entgangen. Dazu einige aufschlussreiche Details: In der Anmerkung 5 (S. 10) nennt Wahl nicht weniger als 17 Titel zur kulturellen Definition von Nationalismus, Definition von Mythos, Religion und Ideologie. Ein anderer als ein drucktechnischer Zusammenhang besteht hier nicht mehr. Wie soll man es kommentieren, wenn Wahl in Anmerkung 22 (S. 17) ohne jeden Ansatz von Differenzierung der jeweiligen Positionen "die einschlägigen Arbeiten der beiden herausragenden deutschen Neuzeit-Historiker Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler" (S. 17) aufzählt, um von diesen ohne jeden inneren Zusammenhang auf Wehlers nationalismusgeschichtlichen Arbeiten und schließlich auf die klassische Nationalstaatstypologie Theodor Schieders zu verweisen. "Eine pointiert zugespitzte Darstellung" (S. 17) von Schieders Typologie erkennt Wahl in Otto Danns "Nation und Nationalismus in Deutschland, 1770 bis 1990" von 1993. Solcher Unsinn lässt sich in der Tat nicht mehr ernsthaft diskutieren.

Es muss der Literaturwissenschaft vorbehalten bleiben, Wahls Fallstudien zu Dahn, Wildenbruch und Flex anhand fachinterner Standards literaturgeschichtlich zu bewerten. Ihr nationalismusgeschichtlicher Gehalt ist gering, sie sind Beispiele verifizierend-zirkelschlüssiger, reproduktiver kulturalistischer path dependency. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bleibt die Verärgerung über eine historisch dilettierende, argumentativ schwache, theoretisch nicht hinreichend reflektierte und moralinsaure Arbeit (S. 359, 402), die von der kulturalistischen Trendwende zu profitieren versucht.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe





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