ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rainer Kipper, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung (= Formen der Erinnerung, Band 11), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, 394 S., kart., 46 EUR.

Die beiden häufigsten, keineswegs allein von sentimentalen Sozialhistorikern erhobenen Vorwürfe an kulturhistorische Arbeiten zielen auf zwei Strukturprobleme – möglicherweise tatsächlich: Strukturdefekte – des historischen Kulturalismus: die regelmäßig auftretenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung der erstaunlich wenigen und erstaunlich schlichten grundlegenden kulturalistischen Prämissen zur Konstruktion von Identitäten, Selbst- und Fremdbildern und kultureller Pluralität in konkrete empirische Forschungsdesigns und die Neigung zur Auflösung sozialer, politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeiten in "Text" und "Diskurs". Man könnte hier noch manches andere anführen, das allerdings nicht die inhaltlich-methodische Ebene, sondern den Habitus und das "wissenschaftsstilistische" Selbstverständnis führender Vertreter kulturalistischer Ansätze betrifft: ihre häufig ausgeprägt geringe Neigung, eigene Positionen schulenbildend zu verdichten und auf geeigneten Foren engagiert und, gegebenenfalls, "polemologisch kompetent" zu vertreten, ihre Distanz zum Politischen, erst recht zum Sozialen. Die als Teilprojekt des Gießener Sonderforschungsbereichs "Erinnerungskulturen" entstandene Dissertation von Rainer Kipper zeigt eindrucksvoll, dass es auch eine ganz andere, konzeptionell überzeugende, empirisch und interpretatorisch dichte Kulturgeschichte exemplarischer ,vorgestellter Gemeinschaften’ geben kann, die gerade auch aus sozialgeschichtlicher Sicht eine Bereicherung darstellt, da sie über die Deskription zur Interpretation von kulturalistischen Strukturmechanismen gelangt.

Kipper will und kann sich in seiner Arbeit an dem Anspruch einer "Strukturanalyse" messen lassen, "die aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die verschiedenen, aus den Quellen erschlossenen und durch entstehungs- wie wirkungsgeschichtliche Aspekte beleuchteten Positionen in den Aussagezusammenhang einer sich konstituierenden nationalstaatlichen Erinnerungskultur einordnet". (S. 28) Erkenntnisleitend sind für ihn u.a. sowohl die Gattungsbesonderheiten verschiedener Textsorten wie z.B. des historischen Romans als auch die Mechanismen narrativer Sinnbildung. Dies bleibt, wie das erste Hauptkapitel über "Die literarische Aktualisierung des Mythos im Kaiserreich" zeigt, nicht nur Ankündigung, sondern wird u.a. durch Unterkapitel über den historischen Roman "als Erinnerungsgattung" und das gattungsspezifische Problem von ,Authentizität und Fiktionalität’ auf die ausgewählten Fallbeispiele bezogen. Im ersten Teil seiner Arbeit liefert Kipper einen Überblick zur Geschichte des Germanenmythos vom Humanismus bis zur biologistischen Aufladung im 19. Jahrhundert, der zugleich Aufschlüsse über die Genese des völkischen Denkens enthält: "Eine solche Entwicklung schien den Zeitgenossen um so plausibler, als seit der Jahrhundertmitte im Zuge des Vordringens rassentheoretischer Gedanken zyklische Kulturverlaufsmodelle immer größere Bedeutung gewannen. Dass die germanische Rasse im Aufstieg, die lateinisch-romanische hingegen im Niedergang begriffen sei, gehörte zum Standardrepertoire entsprechender Deutungsangebote (...)." (S. 70) Im ersten Hauptkapitel zur Umsetzung des Germanenmythos im Kaiserreich behandelt Kipper exemplarische Fälle: als nationalliberalen Mythos "Die Ahnen" von Gustav Freytag, als völkischen Mythos "Ein Kampf um Rom" von Felix Dahn, als konservativen Mythos "Torald" von Oskar Gutsche, und, besonders interessant für die stark konfessionalistisch polarisierte deutsche Nationalismusgeschichte, als katholischen Anti-Mythos zum Germanen-Deutschen als edlem Wilden "Urdeutsch" von Conrad von Bolanden. Anhand jedes Fallbeispiels behandelt Kipper u.a. die soziale, literarische und politische Stellung bzw. Entwicklung des Autors, die Werksgeschichte, die motiv- und stilkundliche Struktur des Werks sowie deren Verhältnis zum historischen Darstellungsgegenstand, die Technik der Mythoserfindung als Konstruktion von Vergangenheit in der Verbindung historischer und fiktionaler Elemente, außerdem rezeptionsgeschichtliche und literaturkritische Aspekte. Die Auswahl der Fallstudien begründet Kipper mit der "Prominenz der Werke" und "ihrer Repräsentativität für bestimmte erinnerungspolitische Positionen". (S. 29) Im dritten Hauptkapitel hat Kipper eine ,Funktionale Typologie des Germanenmythos’ erarbeitet. Hier geht es ihm einerseits "um jene konstitutiven Merkmale, auf deren Grundlage zwischen Germanen und Deutschen eine substantielle Identität außerhalb der Zeit hergestellt werden konnte, also um Phänomene wie das äußere Erscheinungsbild, den Volkscharakter, die Gemeinsamkeiten mit verwandten und die Unterschiede zu fremden Völkern und Rassen (...)" (S. 29), andererseits um die Funktion des Germanenmythos als Element der Kontingenzbewältigung: "Thematisiert werden in diesem Zusammenhang der Ursprung als determinierender oder stimulierender Faktor, die historische Mission als Sinngebungsmodell, der Rahmen der Nationalgeschichte sowie die Verarbeitung von Wandlungsvorgängen und Fremdeinflüssen." (S. 29) Das dritte Hauptkapitel über völkische Erinnerungskultur im Wilhelminismus thematisiert zugleich geistesgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus, deren Bedeutung weniger in der Viefalt sektiererischer Randkulturen, sondern vielmehr in ihrer außerordentlichen Normalisierung und Veralltäglichung völkischen Denkens zu sehen ist: "Außerhalb der stets minoritär bleibenden völkischen Bewegung, in welcher auch sozialdemokratische Dissidenten eine bedeutende Rolle spielten, bezogen sich Liberale, Konservative und ultramontane Katholiken gleichermaßen auf den vermeintlich nationalen Ursprung, um ihre Gruppenidentität zu stabilisieren und ihre politische Position historisch zu legitimieren." (S. 354)

Rainer Kipper hat eine gut durchdachte, plausibel argumentierende und empirisch dichte kulturgeschichtliche Studie vorgelegt, die verständlich macht, warum "der Germanenmythos als identitätsstiftendes Selbstbeschreibungssystem sowie als diskursives Feld zur Austragung erinnerungspolitischer Kontroversen im Deutschen Kaiserreich quantitativ und qualitativ eine neue Bedeutung [gewann]." (S. 359)

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe





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