ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868 – 1934. Eine Biographie, Verlag C.H. Beck, München 1998, 929 S., geb., 49,80 EUR.

Fritz Haber war nicht nur ein ebenso genialer wie erfolgreicher Wissenschaftler und brillanter Organisator, sondern auch eine Persönlichkeit voller Widersprüche, die außerdem das Schicksal des deutschen Judentums in ganz besonders tragischer Weise verkörpert. Er errang mit der später nach ihm und Carl Bosch benannten Haber-Bosch-Synthese einen der größten Erfolge in der Geschichte der modernen Chemie; er war am Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ebenso beteiligt wie einige Jahre später an der Gründung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der nachmaligen Deutschen Forschungsgemeinschaft; er gehörte zu den Initiatoren der deutschen Gaskriegführung ab 1914/15 und leitete in dieser Eigenschaft schließlich ein riesiges Institut, das mit seinen über 1500 Mitarbeitern praktisch ein Rüstungsbetrieb geworden war; es wurde militärisch geführt, doch musste der Kaiser intervenieren, ehe sich das Militär entschließen konnte, dem Juden Haber auch nur einen relativ unbedeutenden Offiziersrang zu verleihen; nach dem Kriege mühte sich Haber jahrelang, durch sein Meergoldprojekt einen Beitrag zur Überwindung der deutschen Nachkriegsnot zu leisten, doch scheiterte er schließlich; er erhielt den Nobelpreis, doch wurde er bei der Neubesetzung des besonders renommierten Lehrstuhls von Emil Fischer übergangen und in späteren Jahren selbst von der IG Farben desavouiert; er entwickelte auf der Grundlage seiner Kampfgasforschungen ein hochwirksames Schädlingsbekämpfungsmittel – und zwei Jahrzehnte später setzte es der von ihm stets verehrte deutsche Staat zum Massenmord an Millionen von Juden ein; er suchte menschliche Bindungen, scheiterte jedoch in zwei Ehen; er erwarb sich um Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland gewaltige Verdienste und starb dennoch exiliert, nach einer rast- wie letztlich ergebnislosen Odyssee durch Europa.

Es überrascht nicht, dass Haber immer wieder das Interesse professioneller wie amateurhafter Historiker gefunden hat. Während sein zeitweiliger Mitarbeiter Johannes Jaenicke zwar über Jahrzehnte hinweg Material für eine Haber-Biographie sammelte, letztlich mit diesem Vorhaben aber scheiterte, konnte Dietrich Stoltzenberg schließlich 1994 eine Biographie herausbringen. Da sie jedoch fachwissenschaftlichen Standards nicht entsprach, blieb das Desiderat einer wissenschaftlich brauchbaren Biographie weiterhin unerfüllt. Seit 1998 liegt nun endlich mit Margit Szöllösi-Janzes Arbeit ein Werk vor, das keine Wünsche offen lässt und wohl auf absehbare Zeit maßgeblich bleiben wird.

Szöllösi-Janze hat als Quellengrundlage in erster Linie die von Jaenicke angelegte (und heute im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft verwahrte) Materialsammlung herangezogen, daneben aber Material aus rund zwanzig weiteren Archiven benutzt. Ihre Bibliographie ist ähnlich imponierend: Sie umfasst rund 700 Titel und weist keine nennenswerten Lücken auf. Gestützt auf diese eindrucksvolle Materialbasis hat die Autorin eine Studie geschrieben, die nicht nur quantitativ ihresgleichen sucht: Auf fast 1000 Seiten liefert sie die eigentliche Biographie und bettet Habers Lebensgeschichte ein in eine profunde Darstellung der Wissenschaftspolitik in Kaiserreich und Republik, des Forschungsbetriebes und der innerfachlichen Streitigkeiten und Rivalitäten, aber auch derjenigen Partien der deutschen Kriegführung, für die Haber (mit-)verantwortlich zeichnete. Insofern kann man Margit Szöllösis Buch gleichsam nebenher auch als eine Monographie über Wissenschaft, Wissenschaftler und Wissenschaftspolitik zwischen etwa 1910 und 1933 mit Gewinn lesen. Selbstverständlich ist nicht alles neu. Das wäre angesichts des Forschungsstandes kaum vorstellbar. Auch ist es selbstverständliche, gute und allgemein geübte Praxis, dass Monographien Neues mit schon Bekanntem amalgamieren.

Nun könnte man einwenden, dass über der Untersuchung der Rahmenbedingungen etc. die biographische Seite zu kurz käme, doch ist das nicht der Fall: Wir erfahren alles, was sich quellenmäßig abgesichert über Habers Vita heraus arbeiten ließ. Mehr geben die Quellen offensichtlich nicht her, denn gerade im spezifisch biographischen Bereich fließen sie weit weniger reichlich, als beispielsweise auf dem Gebiet seines wissenschaftspolitischen Wirkens, denn Habers persönlicher Nachlass ging 1940 verloren. Man griffe also zu kurz, würde man diese Tatsache der Autorin anlasten: Sie reproduziert nicht, wie gelegentlich eingewandt wurde, "das offizielle Selbstbild großer Männer", sondern lässt sich von der Quellenlage leiten. Das mag manchem als eine eher konventionelle Herangehensweise erscheinen, doch birgt sie zweifellos Vorteile beispielsweise gegenüber psychologisierenden Studien, die allzu leicht den quellenmäßigen Boden unter den Füßen verlieren.

Im übrigen wäre es gerade bei einer Jahrzehnte lang im Zentrum des wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Geschehens agierenden Persönlichkeit wie Haber wenig zweckdienlich, in einer Biographie von den Rahmenbedingungen seines Wirkens und von diesem Wirken selbst abzusehen. Habers tragische Rolle bei der Entwicklung von Zyklon B – um nur ein besonders nahe liegendes Beispiel zu nennen – wird erst dann wirklich verständlich, wenn wir nicht nur Habers etatistisch-unkritische Pflichtauffassung kennen, sondern auch die Entwicklung der deutschen Gaskriegführung und den diesem Themenkomplex gewidmeten Diskurs innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

Insgesamt hat Szöllösi-Janze mit ihrer Haber-Studie eine kontextuelle Biographie vorgelegt, die eine seit langem als störend empfundene Lücke geschlossen hat und obendrein spannend zu lesen ist.

Lothar Burchardt, Konstanz





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