ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Heinrich August Winkler (Hrsg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Band 10), R. Oldenbourg Verlag, München 2002, 193 S., geb., 24,80 EUR.

Der Band versammelt die Vorträge eines Symposiums der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, das am 24. und 25. Februar 2000 in Leipzig zum Thema „Gespaltenes Geschichtsbild in Deutschland - Der Streit um den historischen Ort der Weimarer Republik in Ost und West seit 1945" veranstaltet wurde. Die Fragestellung knüpft an jene neueren Ansätze in der Geschichtswissenschaft an, die das historische Erinnern gleichsam selbstreflexiv zum Gegenstand neuer historiographischer Untersuchungen machen. Welche Geschichtsbilder wurden zu welcher Zeit aus welchen Gründen entworfen, adaptiert und verbreitet? Da die Deutungshoheit über die Wirklichkeit, auch über vergangene Wirklichkeit, zu den wichtigsten Konstituentien von politischer Macht gehört, sind Auseinandersetzungen über die „richtige" Interpretation der Geschichte immer auch politisch dimensioniert: „Geschichte als Waffe" (Edgar Wolfrum) ist in allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen präsent.

An den verschiedenen Geschichtsbildern der beiden Staaten im geteilten Deutschland der Nachkriegszeit lassen sich solche Phänomene mit wünschenswerter Deutlichkeit studieren. Gerade die Erinnerung an die Weimarer Republik, die der vorliegende Band in den Blick nimmt, provozierte höchst unterschiedliche Interpretationen. Während im Westen die erste deutsche Demokratie immer hochgehalten wurde und der Neuanfang von 1945/49 als Wiederanknüpfung an eine 1933 abgebrochene Tradition galt, als eine Wiederanknüpfung freilich, die die Fehler der Vorgängerin um jeden Preis vermeiden wollte, erkannte der Osten in der bürgerlich-kapitalistischen Republik vor allem die Wegbereiterin des Nationalsozialismus. Dabei wollten beide Staaten aus der Weimarer Erfahrung ihre Lehren ziehen: Die Bundesrepublik, indem sie bei der Konzipierung des Grundgesetzes alle vermeintlichen Mängel der Verfassung von 1919 sorgfältig vermied und als „wehrhafte Demokratie" jeder Gefahr der antidemokratischen Unterwanderung entschlossen entgegentrat; die DDR, indem sie der bürgerlichen Gesellschaft einen latenten Faschismus unterstellte und nur durch die sozialistische Ordnung eine konsequent antifaschistische Haltung garantiert sah.

Über diese allgemeine Einschätzung der Weimarer Republik hinaus gehen die einzelnen Beiträge des Bandes aber auch konkreter auf Einzelphänomene ein: Die Bewertung der Revolution von 1918 (Heinrich August Winkler und Jürgen John), die Politik der SPD in der Phase der Präsidialkabinette (Eberhard Kolb), die Spaltung der Arbeiterbewegung (Andreas Wirsching) und die Einschätzung der Reichsverfassung (Dieter Grimm). Dabei erweist sich vor allem die Beurteilung der Novemberrevolution als ausgesprochen strittig. In der Bundesrepublik stand zunächst die Erdmann-These im Vordergrund, die die SPD 1918 vor die Wahl gestellt sah, entweder im Bündnis mit den konservativen Kräften eine demokratische Republik aufzubauen oder im Gefolge der radikalen Linken in die ungewisse Zukunft einer proletarischen Revolution nach russischem Vorbild abzugleiten. Dass sich diese Deutung hervorragend in den politischen Kosmos der Adenauer-Ära einfügte, liegt auf der Hand: Jede Kooperation mit dem Osten barg Gefahren, die Strategie der Bundesrepublik hingegen, konservative Gruppierungen zu integrieren, versprach auf Dauer stabile demokratische Verhältnisse. In den 1960er Jahren wies dann Eberhard Kolb nach, dass die Macht der radikalen Linken in der Revolutionsphase viel geringer war, als lange Zeit angenommen worden war; es war aus der Perspektive der SPD gar nicht nötig, das Bündnis mit der Rechten zu suchen, um eine „bolschewistische Gefahr" abzuwenden. Die SPD hätte sehr wohl ihre vor dem Krieg formulierten Reformziele verfolgen können, ohne sich in die Umarmung von Reichswehr, Industrieverbänden etc. zu begeben. Diese Einsicht lieferte nolens volens der 68er -Generation Munition für ihr Argument, die Sozialdemokratie habe 1918 eine historische Chance verspielt. Auch in den Folgejahren habe die zögerliche Haltung der SPD zur Destabilisierung der Republik beigetragen. Die Berechtigung dieser Kritik wird in der Geschichtswissenschaft bis heute kontrovers diskutiert. Kolb legt in seinem Beitrag über die „Rettung der Republik: Die Politik der SPD in den Jahren von 1930 bis 1933" eine differenzierte Stellungnahme vor. Die Preisgabe der Großen Koalition 1930 war sicherlich fahrlässig, so Kolb, aber die Tolerierungspolitik gegenüber dem Kabinett Brüning ohne sinnvolle Alternative.

In der DDR wurde die Revolution von 1918 zunächst als eine „unvollendete bürgerliche Revolution" bewertet. Damit sollte sie an das historische Verlaufsschema des dialektischen Materialismus angepasst werden: Galt das Kaiserreich noch als semiabsolutistische Staatsform, so musste eine bürgerliche Revolution den Weg zum liberalen Kapitalismus ebnen, bevor dann nach der Überwindung des Faschismus, der letzten Bastion der bürgerlichen Gesellschaft, mit Hilfe der Roten Armee eine Transformation zur sozialistischen Gesellschaftsordnung in Deutschland möglich wurde. „Unvollendet" blieb die Novemberrevolution insofern, als sie die Macht der „feudalen" Kräfte - der Junker, Militärs und Diplomaten - nicht vollständig zu brechen vermochte. Das Fortbestehen dieser Kräfte erleichterte dann den Siegeszug des Nationalsozialismus. In den 1960er Jahren wurde dieses Geschichtsbild dann mehr und mehr von einer Revolutionsdeutung als „sozialistischer Revolution" abgelöst, die aufgrund des Verrats der Sozialdemokratie zum Scheitern verurteilt war. Revolutionäres Subjekt waren 1918 die Arbeiter- und Soldatenräte, ihre historische Tragik bestand darin, dass sie von reformistischen Kräften in Bündnisse mit bürgerlichen und reaktionären Kräften hineingedrängt wurden, die schließlich das Gelingen der Umwälzung vereitelten und nur die Etablierung einer bürgerlich-kapitalistischen Demokratie zuließen. Wichtigstes Erbe der Novemberrevolution blieb insofern die Entstehung der KPD, einer Partei, die zwar anfänglich Rückschläge hinnehmen musste, letztlich aber - nach 1945 - ihre historische Mission der Führung der Arbeitermassen zum Sozialismus erfüllen konnte. Gerade der Verratsvorwurf gegen die SPD ließ sich politisch zur Diskreditierung der Bundesrepublik ausschlachten, deren Sozialordnung auch die Handschrift dieser Partei trug: Wieder, so die DDR-Propaganda, hätten sich die Sozialdemokraten durch das Kapital korrumpieren lassen, wieder hätten sie ihre Hand zur Schaffung einer bürgerlich-kapitalistischen, also letztlich arbeiterfeindlichen Ordnung gereicht. In den 1980er Jahren stellen Jürgen John und Martin Sabrow in ihren Beiträgen dann eine tendenzielle Erosion des „Diskurspanzers" (S.183) parteioffizieller Deutungen der Weimarer Republik fest. Im Zeichen von Glasnost sei es hier - zumindest in Ansätzen - zur Kritik an den Schwarz-Weiß-Deutungen der Revolution und generell an der Bevormundung der Wissenschaft durch die Politik gekommen. Wie strittig diese Behauptung allerdings ist, geht schon daraus hervor, dass Hermann Weber in seinem „Kommentar" sogleich massive Zweifel anmeldet (S.146): Eine wirkliche Pluralisierung der Auffassungen, die auch die Ebene dessen, was in den Schubladen verborgen blieb, verlassen habe, sei in der DDR der 1980er Jahre nicht erfolgt.

Insgesamt stellt der Band eine wichtige Frage, die zur Klärung der Geschichtsbilder, aber auch des politischen Selbstverständnisses und der politischen Kultur der beiden deutschen Teilstaaten beiträgt. Leider wird diese Frage aber in den einzelnen Beiträgen immer wieder aus den Augen verloren. Anstatt von einer Metaebene aus zu untersuchen, welche Geschichtsbilder in der Bundesrepublik und in der DDR bestanden und in welche Deutungskämpfe sie eingebettet waren, werden häufig nur konventionelle Darstellungen der Geschichte der Weimarer Republik geliefert. Dabei wird viel Altbekanntes wiederholt, so dass der Leser manche Durststrecke überwinden muss, bevor er wieder auf Überlegungen stößt, die das eigentliche Thema des Buches aufnehmen. Darüber hinaus stört eine gewisse Disproportionalität: Viele Gesichtspunkte werden nur für den einen oder den anderen Staat behandelt, nicht in paralleler Gegenüberstellung für beide, was der Analyse einen viel systematischeren Charakter hätte verleihen können. Zu diesem Bild der Disproportionalität passt die Inselhaftigkeit der beiden „Kommentare", die in der Mitte des Buches abgedruckt sind und nur auf die Beiträge von Kolb und Wirsching Bezug nehmen.

Frank Becker, Münster





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