Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2002, 814 S., geb., 59 EUR.
Um die Faschismusforschung ist es in Deutschland sehr ruhig geworden. Weder die "Neue Linke" der 1970er-Jahre mit ihren häufig ökonomistisch verengten Interpretationen, noch die ideengeschichtlichen Großdeutungen eines Ernst Nolte oder empirisch angelegte Einzelstudien konnten diesem Forschungsgebiet bis heute prägende innovative Impulse geben. Im Gegensatz zur angelsächsischen Literatur analysierte in Deutschland in den letzten Jahren fast könnte man sagen, in den letzten Jahrzehnten kaum jemand den europäischen Faschismus vergleichend oder in theoretischer Absicht. Mit seiner Berliner Dissertation versucht nun Sven Reichardt einen neuen Weg zu gehen.
Ausgangspunkt seiner Arbeit ist die These, dass es keine klar umrissene faschistische Ideologie gegeben habe, die sich systematisch, widerspruchsfrei und präzise definieren ließe. Ebenso wenig überzeugen ihn sozialgeschichtliche Interpretationsversuche des Faschismus als Mittelstandsbewegung. Trotzdem wendet er sich nicht grundsätzlich gegen den Versuch, den Faschismus typologisch oder idealtypisch zu fassen. Faschist zu sein, das ist für Reichardt vielmehr "ein aus der Aktion geborener Erfahrungswert" (S. 25): Nicht das Wort oder der soziale Hintergrund, sondern die Tat entschied demnach. Dieser "praxeologische" Ansatz (S. 22) betont die strukturierende Kraft des Handelns und konzentriert sich auf die politischen Aktionen, den politischen Stil und die Organisationspraxis. Mit diesem analytischen Instrumentarium vergleicht Reichardt den Faschismus in Italien mit dem Nationalsozialismus in Deutschland anhand der jeweiligen Kampfbünde, d.h. des Squadrismus und der SA. Ihr Handeln bestand für Reichardt jeweils in erster Linie in der Ausübung von Gewalt. Diese sei aber nicht Mittel zum Zweck gewesen, sondern habe den Lebensstil ihrer Angehörigen und allgemein den Charakter dieser paramilitärischen Organisationen geprägt. Für beide Länder liegt das Augenmerk auf der Bewegungsphase, genauer gesagt auf der Endphase des Aufstiegs vor dem Machtgewinn. Der Arbeit liegt somit ein systematischer (wenngleich gelegentlich unübersichtlicher), symmetrischer Vergleich zu Grunde, der diachron angelegt ist: Für Italien liegt der Schwerpunkt auf den Jahren 1921 und 1922, für Deutschland auf der Zeit von 1929 bis 1932. Nur für diese Phase beansprucht Reichardt Geltung für seinen "praxeologischen" Ansatz zur vergleichenden Erforschung des Faschismus. Letztlich will er zeigen, warum "zwei offenbar so ähnliche Organisationen in zwei so unterschiedlichen Ländern wie der agrarisch geprägten Siegermacht Italien und dem industriell entwickelten Kriegsverlierer Deutschland entstehen konnten". (S. 14 f.)
Mit einem theoriegesättigten Rüstzeug, das sich großzügig aus dem Arsenal der Politologie, der Soziologie und der Kulturwissenschaften bedient, untersucht Reichardt die beiden Kampfbünde in vier breit angelegten Kapiteln. Zunächst nimmt er eine quantitative und qualitative Analyse der Gewalthandlungen von Squadrismus und SA vor. Es folgt ein sozialhistorisches Kapitel, das nicht nur sozialstatistisch nach Berufszugehörigkeit oder Alter fragt, sondern auch nach den maßgeblichen Lebenserfahrungen und den generationsspezifischen Prägungen. Insgesamt ergründet Reichardt hier die sozialen Motive für die Zugehörigkeit zu den paramilitärischen Organisationen. Das nächste Kapitel geht der Organisationskultur in Squadrismus und SA nach. Es handelt von den Bedingungen gewaltsamen Handelns und rekonstruiert die Lebenswelt der "faschistischen Faustkämpfer" so Reichardts alliterative Umschreibung der jungen Männer, deren "soziale Flugbahn" (Pierre Bourdieu) zumeist deutlich nach unten wies. Schließlich geht Reichardt der Verbindung zwischen der politischen Haltung konsequenterweise ist nicht von Ideologie die Rede und der ausgeübten Gewalt nach. In der gesamten Arbeit wechseln sich akribische Mikrostudien, überblickshaft angelegte Abschnitte und eher theoretische Überlegungen ab. Außerdem zieht Reichardt immer wieder Vergleiche zu den paramilitärischen Organisationen der italienischen und der deutschen Kommunisten, so dass die Spezifika der faschistischen Bewegungen plastisch hervortreten. Darüber hinaus wird die staatliche Reaktion auf den faschistischen Terror in den Blick genommen.
Aus der Vielzahl von Befunden können hier nur einige herausgegriffen werden. Im Ergebnis überwiegen die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden faschistischen Kampfbünden. Zwar gab es auch signifikante Unterschiede: Das Sozialprofil des Squadrismus war bürgerlicher als das der SA und außerdem monokonfessionell katholisch. Außerdem spielte die Gewalt in Italien eine noch größere Rolle als in Deutschland. Schließlich fehlte im Squadrismus der Antisemitismus, der in der SA in dieser Phase vor allem der Binnenintegration diente. Wichtiger aber sind die Parallelen: Gemeinsam war beiden Organisationen neben ihrer Gewalttätigkeit das Fehlen stabiler bürokratischer Strukturen zugunsten eines personalistischen, charismatischen Politikstils, eine vage programmatische Zielsetzung sowie der Monopolanspruch auf Jugend und Jugendlichkeit einerseits sowie auf "wahre" Männlichkeit andererseits. Mit dieser politischen Rhetorik sollten unter anderem Spannungen innerhalb der sozial heterogenen Organisationen überdeckt werden.
Außerdem macht Reichardt entgegen den Thesen von Ernst Nolte, Christian Striefler und anderen deutlich, dass faschistische Gewalt nicht grundsätzlich als Antwort auf vorangegangene Gewaltakte der Kommunisten zu verstehen ist. Vielmehr war sie sowohl in Italien als auch in Deutschland zentral für den faschistischen Habitus und wichtiges Mittel der Vergemeinschaftung. Faschistische Gewalt hatte keineswegs nur reaktiven Charakter, sondern sie war häufig eigeninitiativ und offensiv. Das zeigt sich etwa daran, dass sich der SA-Terror auch gegen die wenig gewaltbereite, sozialdemokratische Arbeiterbewegung richtete. Bei den Kommunisten hatte die Gewalt laut Reichardt eine andere Funktion. Dort wurde sie in beiden Ländern eher instrumentell eingesetzt, und die politische Überzeugung spielte eine bedeutende Rolle. Im Unterschied dazu stellte Gewalt für die Faschisten Selbstzweck und Inhalt des eigenen Lebensstils dar.
Diese Thesen sind überzeugend ausgebreitet und gut belegt, wovon der Umfang des Buches mit über 800 Seiten zeugt. Damit ist auch ein Problem der Studie benannt: Aufgrund der anspruchsvollen Fragestellung und des empiriegesättigten Vorgehens hätte sicher niemand einen schlanken Essay erwartet. Gelegentliche Redundanzen und streckenweise sehr weitläufige Ausführungen hätten aber durchaus vermieden werden können; allgemein kann man die Studie nicht vom Vorwurf der "deutschen Dissertationitis" freisprechen. Daneben vergibt sich Reichardt leider die Chance, über den Vergleich hinaus auch nach transnationalen Wahrnehmungen und nach Transfers zu fragen. In dem diachronen Vergleich hätte es sich jedoch aufgedrängt, systematisch das "Vorbild Italien" für den Nationalsozialismus am Beispiel der SA abzuklopfen. An mehreren Stellen der Arbeit blitzen derartige Bezüge auf, ohne dass Reichardt sie voll ausgelotet hätte.
Diese Einwände sind jedoch nachrangig. Reichardt gelingt es, anspruchsvolle theoretische Überlegungen mit plastischen Mikrostudien des Alltags der faschistischen Straßenkämpfer zu kombinieren: Auf dem Höhengrat kultursoziologischer Theoriedebatten ist diese Arbeit ebenso zu Hause wie in den finsteren SA-Sturmlokalen am Rande des "Kleinen Weddings" in Berlin-Charlottenburg. Insgesamt hat Reichardt eine bahnbrechende Studie vorgelegt, die einer vergleichenden, theoretisch und empirisch fundierten Faschismusforschung neue Wege eröffnen wird.
Kiran Klaus Patel, Berlin