ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Auf einem grausigen Mord in der Provinz im Jahre 1900 liegt durch den Ausgang des Kriminalfalls der Schatten von Auschwitz. Der (oder die) Mörder des 19jährigen Gymnasiasten Ernst Winter, dessen Leiche professionell zerlegt, nach und nach in dem westpreußischen Städtchen Konitz gefunden wurde, blieb(en) trotz umfangreicher, wenn auch teils schlampig durchgeführter Ermittlungen und einer astronomisch hohen Belohnung unentdeckt. Darauf begann es mit Gerüchten, die in der Stadt und in den Dörfern umgingen. Sie wurden bald aufgenommen, in Schriftform gebracht und somit verstärkt durch einen angesehenen christlichen Schlachter des Ortes, der bei der Polizei selbst im Verdacht stand, als Täter in Frage zu kommen; ebenso durch eine antisemitische Pressehetze einheimischer und eilends herbeigereister Journalisten. Die weit überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung und der Honoratioren gelangte auf diesen Wegen zu der nicht mehr zu erschütternden Gewissheit, "die Juden" der Gegend hätten sich zusammengetan, gar Unterschriften dafür in ihrer Gemeinde gesammelt, um einen sorgfältig ausgewählten Christen zu schächten, da sie sein Christenblut für ihre religiösen Rituale bräuchten. Antijüdische Unruhen überzogen in mehreren Wellen Konitz und Umland, die erst durch einen massiven Einsatz des preußischen Militärs beendet werden konnten. Konitzer und Auswärtige zogen durch die Straßen, riefen "Schlagt die Juden tot!", warfen Steine auf Häuser, in denen sich die einstigen jüdischen Mitbürger vor ihren Verfolgern verschanzten. Die Menschenmenge versuchte, die kleine Synagoge des Ortes in Brand zu setzen, verwüstete ihr Inneres und griff Vertreter der Obrigkeit an, die verdächtig waren, das schändliche Tun "der Juden" vertuschen zu helfen.

Was war geschehen zwischen dem Frühlingstag, an dem der verstümmelte Rumpf des Ermordeten in einem Sack verschnürt und, wie sich rasch verbreitete, blutleer in einem See gefunden wurde und dem Beginn der Exzesse? Warum endete auf diese Weise das bis dahin friedliche Nebeneinanderleben von Christen und Juden in der Stadt? Diesen Fragen gehen auf der Grundlage weitgehend der selben Quellen zwei Bücher nach, die in dem unausgesprochenen Dialog unterschiedlicher Antworten als die vielleicht wichtigsten Neuerscheinungen der letzten Zeit gelten können. Wer die beiden Bücher liest, wird hineingezogen in eine sehr kleine Welt mit ihren sehr kleinen, heute unbedeutend erscheinenden Konflikten, Sympathien und Antipathien. Die Menschen, die hier lebten und handelten, erhalten so ein Gesicht: Die Berufsschüler, die randalierend durch die Straßen zogen ebenso wie jene Wenigen, die sich gegen die Gerüchte wandten, die antisemitische Resolutionen beschließenden Honoratioren ebenso wie die jüdischen Konitzer, welche den Ort nach diesen Ereignissen meist verließen.

Wenn im Folgenden versucht wird, die Eigenart beider Studien herauszuarbeiten, gilt es zu bedenken, dass beide Autoren sich gleichermaßen daran orientieren, den Kriminalfall und die Unruhen umfassend zu durchleuchten, um die konkrete Situation in ihrer Komplexität einzufangen: Die Differenz liegt dann oft im Akzent, die gemeinsame Basis der Interpretation ist größer als es die bisher veröffentlichten Rezensionen meist annehmen, und doch stimmt es, dass sich die beiden Bücher in ihrer Grundlinie deutlich unterscheiden.

Für Helmut Walser Smith, Associate Professor für Neuere Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, beginnt die Geschichte der Konitzer Unruhen letztlich im Jahre 1150; in einer Heiligenvita erhob Thomas von Monmouth die erste Ritualmordbeschuldigung gegen die Juden. Das Buch endet im September 1939, als der Konitzer "Selbstschutz" sich an der Ermordung von Polen, Juden und geistig Kranken beteiligte. Die Geschichten vom jüdischen Ritualmord, welche in Konitz kursierten und für eine Zeit die Herrschaft ergriffen, beruhten auf der langen abendländischen Tradition von Ritualmordbeschuldigungen, die Smith in einem ausführlichen Exkurs rekonstruiert. Diese in der kollektiven Erinnerung präsente Sammlung vermeintlicher Morde an Christen durch Juden bot ein Alibi dafür, anlässlich des gefundenen Toten Macht über die Juden auszuüben, sie durch die erniedrigenden, wenn auch nicht auf Mord zielenden Rituale der Straßengewalt symbolisch aus der Gemeinschaft auszustoßen, nicht zuletzt um die eigene Zusammengehörigkeit zu bekräftigen. Das "Skript" zu diesem "Ritualmordspiel" (S.205) lieferten die vergangenen Ritualmordvorwürfe und die sich zu anderen Zeiten und an anderen Orten anschließenden antijüdischen Unruhen. Die Wirksamkeit des Gewaltrituals ergab sich daraus, dass auch den Juden das Skript der Vergangenheit bekannt war. Wie ein brennendes Kreuz des Ku-Klux-Klan in den Südstaaten der USA die Bedrohten auf die vergangenen Lynchmorde verweist, so deuten die Rufe, dass die Juden totgeschlagen werden sollten, auf eine lange Reihe von traumatischen Ereignissen hin, die mit Tod und Vertreibung von Juden endeten, weil sie angeblich einen Christen geschlachtet oder eine Hostie geschändet hätten. Der Autor sieht die Konitzer Ausschreitungen als die "Vorboten" der Shoah. (S.8) Was in der Kleinstadt geschah, wird nur verständlich als Teil einer langen jüdischen Leidensgeschichte, welche später in der Shoah kulminierte. Sowohl die Verleumdungen und Unruhen des Jahres 1900 als auch die nationalsozialistische Mordpolitik sind so als das Ergebnis einer tief verwurzelten Kontinuität des Judenhasses zu lesen.

Der Blick von Christoph Nonn, Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, richtet sich weniger auf die Verortung und Bedingtheit der Konitzer Geschehnisse in der judenfeindlichen Tradition. Sein Buch umfasst einen wesentlich kürzeren Zeitraum, es beginnt mit dem Tag der Ermordung von Ernst Winter und endet mit dem Abklingen der Unruhen. Im Mittelpunkt der Erklärung stehen anthropologische Konstanten, die antisemitischen Haltungen vorausgehen und in einer bestimmten Konstellation Menschen zu "Gelegenheitsantisemiten" machen können: in erster Linie das Geltungsbedürfnis, "das wir alle haben" (S.203), welches dazu führte, dass in Konitz das Gerücht vom Ritualmord erdacht und verbreitet wurde, da es von allen denkbaren Varianten der Frage "Wer ist der Täter?" am meisten Faszination am Bizarren aufwies. Aus der eher impliziten These, der Gerüchteküche liege weniger ein bereits vorhandener Antisemitismus, sondern etwas im Wesen des Menschen zu Grunde, wurde geschlossen, der Autor stehe in einer deutschen historiographischen Tradition, die Virulenz des Antisemitismus im Kaiserreich zu verharmlosen (Volker Ullrich, in: Die Zeit 44/2002). Dem ist entgegenzuhalten: Christoph Nonn sucht in seinem Buch nach Ursachen von Antisemitismus. Er findet sie tatsächlich primär im Geltungsbedürfnis vor allem von Angehörigen unterer sozialer Schichten, worauf die meisten Rezensionen seinen Ansatz reduzieren, weiter gehend jedoch im komplizierten Geflecht politischer und persönlicher Interessen. So wurden etwa die gegen die Juden gerichteten Gerüchte für die gerade stattfindende Nachwahl zum Reichstag und für Machtkämpfe der lokalen Honoratioren instrumentalisiert. Um seine Karriere nicht durch den Misserfolg bei der Tätersuche zu gefährden, deutete ein Beamter gegenüber seinen Vorgesetzten an, es könne sich durchaus um eine jüdische Verschwörung handeln, gegen die einzelne Polizisten selbstredend wenig ausrichten können. Für Nonn ist der Fall ein "Lehrstück", welches die Grundbedingungen von Ausgrenzungen durch Gerüchte und Gewalt beleuchtet. (S.203) Das vielgestaltige Streben nach Eigennutz war auch zwischen 1933 und 1945 wirksam und damit für die Shoah (mit)verantwortlich. (z.B. S.187) Der Autor entlässt ausdrücklich weder die Konitzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die Deutschen im Nationalsozialismus aus ihrer Verantwortung. (S.151)

Die Frage, welcher Interpretation mehr Gültigkeit einzuräumen sei, bleibt ungelöst: dem eindringlichen Verweis auf die lange Geschichte der Vorurteile und der Verfolgung, die in einer Kleinstadt durch einen Mord sich brutal aktualisierte und in die Shoah einmündete oder dem anderen nicht weniger eindringlichen, dass dem Rassismus Bedürfnisse zu Grunde liegen, die immer noch vorhanden sind und mit denen ein anderer Umgang erst zu lernen ist. Die je sorgsam begründeten, aber doch so verschiedenen Perspektiven auf das selbe Geschehen schaffen jedenfalls jene produktive Verstörtheit, die selten so intensiv von historiographischen Studien ausgeht.

Erik Eichholz, Hamburg





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