ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Waltraud Jachnow u.a. (Hrsg.), "...und die Erinnerung tragen wir im Herzen". Briefe ehemaliger Zwangsarbeiter – Bochum 1942-1945, Verlag Kamp GmbH, Bochum 2002, 245 S., kart., 10,15 EUR.

Die jahrelange Diskussion um Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter hat dazu geführt, dass sich vielerorts private Initiativen gebildet haben, die sich mit dem Ausmaß und den Bedingungen des Zwangsarbeitereinsatzes in ihrem Heimatort beschäftigen. Wesentlicher Bestandteil bei der Aufarbeitung dieses Themas sind Kontakte zu Überlebenden, die in der Regel mit der Absicht geknüpft werden, die Betroffenen nach Deutschland einzuladen. Wie sich gezeigt hat, werden die Einladungen trotz hohem Alter und schlechtem Gesundheitszustand – oftmals durch Schädigungen während der Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland verursacht – gerne angenommen.

Durch die persönlichen Kontakte mit den ehemaligen Zwangsarbeitern entstehen Quellenbestände, die auch der historischen Forschung wertvolle Ergänzungen zu den schriftlichen Überlieferungen der Archive bieten können. Neben zeitgenössischen Fotos und Dokumenten, die bis heute von den Opfern aufbewahrt wurden, sind vor allem die Briefe und Interviews, die im Laufe der Kontakte gesammelt werden, eine wertvolle Quelle, die nicht nur den bisherigen Kenntnisstand illustriert, sondern einen neuen Blickwinkel auf die Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg erlaubt.

Die angesprochenen Projekte konzentrieren sich in den letzten Jahren auf ehemalige Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion. Damit sind nicht nur die beiden zahlenmäßig größten Gruppen des nationalsozialistischen "Ausländereinsatzes" erfasst, sondern auch Betroffene, deren Schicksal während der Zeit des Kalten Krieges sowohl im Westen als auch in ihren jeweiligen Heimatländern wenig Beachtung fand. Vor allem ehemalige "Ostarbeiter" – wie die zivilen Zwangsarbeiter aus den Gebieten der besetzten Sowjetunion im nationalsozialistischen Behördendeutsch genannt wurden – hatten nach ihrer Rückkehr regelmäßig unter Verdächtigungen und Benachteiligungen zu leiden, die sich nicht nur auf die Behandlung durch offizielle Stellen beschränkten, sondern häufig auch im Privatleben zu spüren waren.

Die Veröffentlichung "... und die Erinnerung tragen wir im Herzen" macht die eben genannten Aspekte am Beispiel des Einsatzes von "Ostarbeitern" in der Industriestadt Bochum deutlich. Seit 1987 verbindet Bochum und die ukrainische Stadt Donezk eine Städtepartnerschaft, die vor allem von der Gesellschaft "Bochum – Donezk e. V." mit Leben gefüllt wird. Seit 1992, also lange vor der öffentlichkeitswirksamen Diskussion um Entschädigungszahlungen, werden regelmäßig Gruppen ehemaliger Zwangsarbeiter nach Bochum eingeladen. Die im Zusammenhang mit diesen Besuchen entstandenen Unterlagen bilden die Grundlage des Buches. Neben Fotos und Dokumenten aus dem Besitz der ehemaligen Opfer werden Ausschnitte aus Briefen, Einzel- und Gruppeninterviews, Fragebögen, Zeitungsartikeln, Gesprächszusammenfassungen und Gedichten abgedruckt. Die Absicht der Herausgeber ist es, diese Dokumente "einem breiteren Publikum zugänglich zu machen", damit "die Zwangsarbeiter nicht länger als anonyme Gruppe erscheinen" (6).

Am Beginn des Buches steht ein einführender Artikel, der zusammen mit dem umfangreichen Glossar die notwendigen Hintergrundinformationen auf der Basis der neueren Literatur und eigener Quellenarbeit liefert. Das folgende kurze Kapitel über "die Wiederentdeckung der Gräber" von Kriegsopfern aus der ehemaligen Sowjetunion durch eine kirchliche Aktionsgruppe, verdeutlicht auch die Widerstände seitens der betroffenen Firmen und der öffentlichen Verwaltung, die die Aufarbeitung behindern. Anschließend wird die konkrete Entwicklung der Kontakte zu den Überlebenden in Donezk geschildert, wobei die Darstellung der "Situation der Zwangsarbeiter nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion" (30-35) etwas ungenau und wenig differenziert bleibt, weil sie sich vorwiegend auf einen Bericht der Zwangsarbeiterorganisation in Donezk stützt, ohne weitere Forschungsliteratur einzubeziehen. So ist etwa die Tatsache, dass die meisten ehemaligen "Ostarbeiter" heute in der Ukraine leben, nicht darauf zurückzuführen, dass "die aus Zentralrussland Verschleppten nicht das Recht [hatten], dorthin zurückzukehren" (31), sondern darauf, dass die Masse der Zwangsarbeiter auch aus der lange und fast vollständig von der Wehrmacht besetzten Ukrainischen SSR verschleppt worden war. Viele Ukrainer durften nach ihrer Repatriierung nicht in ihre Heimatrepublik zurückkehren, sondern mussten zunächst an den Brennpunkten des Wiederaufbaus im Ural oder dem Kuzbass Arbeitsdienst leisten, der sich in seinen Bedingungen nur wenig vom Einsatz als "Ostarbeiter" in Deutschland unterschied. Erst nach Stalins Tod wurde dieses Regime gelockert und die Betroffenen konnten an ihre Vorkriegswohnorte und zu ihren Familien zurückkehren. Die Mehrzahl der Überlebenden, die in dem Buch zu Wort kommen, hat denn auch schon vor der Verschleppung nach Deutschland im Gebiet Stalino, wie Donezk damals hieß, oder in der Südukraine gelebt.

Den Hauptteil des Buches bilden Auszüge aus den Erinnerungen der Betroffenen. Die Ausschnitte sind dabei nach den Besuchsjahren angeordnet, so dass der Zusammenhang, in dem die Texte entstanden sind, deutlich wird. Die Vorgeschichte und der Ablauf der Besuche werden eingehend geschildert, so dass neben unterstützenden Institutionen, wie etwa dem Volkswagenwerk oder der Sparkasse Bochum, auch Schwierigkeiten und Widerstände benannt werden. So hat die Stadt Bochum die Besuche erst seit dem Jahr 2000 nennenswert unterstützt, nachdem "die Öffentlichkeit seit der Diskussion um die Entschädigungszahlungen für das Thema Zwangsarbeit sensibilisiert war" (145). Die ehemaligen Arbeitgeber zeigten sich dagegen generell "sehr zurückhaltend" (71). Die Schilderungen der organisatorischen Details sind sicherlich sehr hilfreich für Institutionen, die Besuchsprogramme planen.

Die Berichte der Überlebenden sind innerhalb der Kapitel über die Besuche alphabetisch angeordnet. Das Spektrum reicht hier von sehr kurzen Mitteilungen mit den wichtigsten biographischen Stationen bis zu ausführlichen Briefen, in denen detaillierte Schilderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen die Heterogenität der Verhältnisse verdeutlichen, mit denen Zwangsarbeiter an den verschiedenen Stationen ihrer Verschleppung konfrontiert waren. Ein von mehreren Zeitzeugen geschilderter Vorfall betrifft etwa den noch wenig erforschten Bereich der Massaker an Zwangsarbeitern in der Kriegsendphase. Anfang April 1945, wenige Tage vor der Befreiung durch amerikanische Truppen, wurden in einem Lager der Gröppelwerke fünf junge "Ostarbeiterinnen" und ein "Ostarbeiter" als Rache für die Ermordung des stellvertretenden Lagerleiters durch flüchtige "Ostarbeiter" erschossen. In den Erinnerungen der deutschen Zeitzeugen tauchen die Zwangsarbeiter dagegen häufig nur als angebliche Plünderer nach der Befreiung auf, ohne die gerade seit Anfang 1945 immer brutalere und willkürlichere Behandlung und die sich rapide verschlechternde Ernährungslage zu berücksichtigen.

Als "Ostarbeiter" nach Deutschland verschleppt zu werden, konnte sehr verschiedene Schicksale bedeuten, obwohl die rechtliche Grundlage ihrer Behandlung überall gleich war und sie zu rechtlosen Objekten machte, die der Willkür ihrer "Herren" ausgeliefert waren. Vera Gorbatschowa, die im April 1942 kurz nach Beginn der Massendeportationen in der Ukraine nach Deutschland kam, war z.B. die gesamte Zeit bei derselben Firma beschäftigt. Sie musste in einem isolierten Lager mit einfachen Werkzeugen große Regenrückhaltebecken ausschachten und war miserabel untergebracht und ernährt. Ihre Kontakte während dieser Zeit beschränkten sich auf andere Zwangsarbeiter und wenige deutsche Kollegen (172f.). Andrej Pogorelow dagegen lernte mehrere Arbeits- und Lebensbereiche kennen. Nach einer kurzen Tätigkeit in der Landwirtschaft, wurde er einem Bergwerk zugeteilt, floh, wurde wieder festgenommen und in ein Arbeitserziehungslager eingeliefert, wo er unter unmenschlichen Bedingungen in einem Steinbruch arbeiten musste und kam schließlich in eine Waffenfabrik nach Meschede (143f.). In den Erzählungen scheint immer wieder durch, dass die rigiden Vorschriften zur Behandlung der "Ostarbeiter" oft nicht beachtet wurden. So schildert Iwan Grizenko, dass es ihm nach seiner Flucht in Bochum gelang, mit Straßen- und Eisenbahn Soest zu erreichen, wo er trotz fehlender Papiere vom Arbeitsamt an einen Bauern vermittelt wurde. So unterschiedlich wie die Einsatzgebiete und Erfahrungen der "Ostarbeiter" sind auch ihre Erinnerungen an ihre Zeit in Deutschland.

Die Berichte der "Ostarbeiter" werden ergänzt durch ein ausführliches Interview mit John Chillag, einem ungarischen Juden, der im August 1944 aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in das Außenlager in Bochum gebracht wurde, wo er an einer Stahlpresse arbeiten musste. Die Behandlung der KZ-Häftlinge war ungleich brutaler und unmenschlicher als bei den anderen Zwangsarbeitern. Während bei den letzteren die Erhaltung der Arbeitskraft im Interesse der Arbeitgeber lag, war die Ermordung der jüdischen KZ-Häftlinge beschlossene Sache und ihr Einsatz trug daher alle Merkmale des Prinzips "Vernichtung durch Arbeit". Ihnen wurden nur die gefährlichsten und schmutzigsten Tätigkeiten übertragen, ihre Verpflegung war miserabel, sie unterlagen einem Regime wie im Konzentrationslager mit stundenlangen Appellen, ständigen Misshandlungen und permanenter Todesgefahr. Im Dezember 1944 starb der Vater von John Chillag, Joszef Csillag (John Chillag hatte nach seiner Auswanderung nach Großbritannien die Schreibweise seines Nachnamens angepasst), im "Schonungsblock" des KZ-Außenlagers Bochum vermutlich an Entkräftung. Die Auflistung der "Angehörigen der Familie Csillag, die während des Holocaust ermordet wurden" (227) umfasst 58 Namen. Das Interview mit John Chillag ist lebensgeschichtlich angelegt und umfasst daher auch seine Jugend und sein Leben nach dem Krieg.

Obwohl die Absicht des Buches - wie erwähnt - vor allem darin liegt, das Schicksal der Opfer zu würdigen, können die dort versammelten Berichte auch für die allgemeine Forschung zu Zwangsarbeitereinsatz im Zweiten Weltkrieg nutzbar gemacht werden. Auch wenn die Mehrzahl der Berichte recht knapp gehalten ist, eignen sie sich gut als Ergänzung zu normativen Quellen und Akten der deutschen Verwaltung. Ausmaß und Grenzen der Durchsetzung des ausländerpolizeilichen Sonderrechts werden deutlich und viele Aspekte des Alltagslebens werden überhaupt nur in Zeitzeugenberichten fassbar. Die rein chronologische Anordnung der Quellen macht die Auswertung für wissenschaftliche Zwecke allerdings etwas mühsam, zumal sie auch nicht durch Register erschlossen sind. Es ist daher anzuregen, bei ähnlichen Veröffentlichungen von Beginn an mit zu berücksichtigen, dass es sich auch um eine Quellenedition handelt, deren Benutzung durch entsprechende Erschließung sehr erleichtert wird. Eine andere Möglichkeit wäre, die Berichte thematisch anstatt chronologisch zu ordnen, was im vorliegenden Fall allerdings zum Verzicht auf die Vermittlung des speziellen Klimas der einzelnen Besuche der Gruppen von Überlebenden gezwungen hätte.

Jens Binner, Ilsede





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