Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Susanne Heim (Hrsg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Wallstein Verlag, Göttingen 2002, 312 S., brosch., 20 EUR.
Wissenschaftsgeschichte hat Konjunktur, und gerade die Erforschung der Natur- und Geisteswissenschaften im "Dritten Reich" hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Trotzdem mag man sich auf den ersten Blick fragen, ob ein Thema wie die Geschichte der landwirtschaftlichen Züchtungsforschung, die im vorliegenden Band untersucht wird, eine eigene Aufsatzsammlung verdient hat. Treibt die NS-Historiographie hier allzu wilde Blüten? Solche Befürchtungen kann der von Susanne Heim herausgegebene Band eindeutig ausräumen.
Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Agrarwissenschaft und besonders die Pflanzenzucht in vielen Staaten einen Aufschwung. Ein Ziel war jeweils die Steigerung des Ertrags an landwirtschaftlichen Produkten. Gerade in Deutschland zog man schon vor 1933 aus den Kriegserfahrungen die Konsequenz, dass in der Botanik und der noch jungen Genetik wichtige Potentiale lägen, um kriegsbedingte Engpässe und Defizite künftig zu vermeiden. Pflanzenzucht und Agrarforschung waren somit seit den 1920er Jahren auf das Engste mit dem Autarkiegedanken verknüpft. Die Geschichte der landwirtschaftlichen Züchtungsforschung wird in dem Band aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt, wobei ein Schwerpunkt auf institutionen- und personenzentrierten Fragestellungen liegt. In vielen Beiträgen spielen Institute und Personal der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) eine tragende Rolle. Das verwundert wenig, da die Beiträge mehrheitlich auf einen Workshop des Forschungsprojekts der Max-Planck-Gesellschaft zur Aufarbeitung der Geschichte der KWG im Nationalsozialismus zurückgehen. Immer wieder schweift der Blick aber auch zu anderen Akteuren. Gerade im Hinblick auf den Autarkiegedanken, der bereits vor 1914 vertreten worden war und der in der Weimarer Republik noch größere Bedeutung erhielt, lassen sich so wichtige Kontinuitäten vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus zeigen.
Brisanter noch als der Beitrag zur Autarkiepolitik des Regimes ist der Anteil der akademischen landwirtschaftlichen Züchtungsforschung an den Planungen und der Politik für die Ostgebiete im Zweiten Weltkrieg. Die militärische Expansion eröffnete aus Sicht vieler Züchtungsforscher schier grenzenlose, neue Betätigungsfelder. Das zeigt sich am deutlichsten an der Person Konrad Meyers, Professor im Bereich Agrarwissenschaften an der Berliner Universität, Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und federführend beteiligt am "Generalplan Ost", der bekanntlich die Deportation, Ermordung und Versklavung von Millionen Osteuropäern vorsah. Angesichts seiner Bedeutung ist in mehreren Artikeln von Meyer die Rede; besonders aufschlussreich ist Irene Stoehrs Vergleich zwischen dem "Durchstarter" Meyer (S. 90) und dem deutlich älteren, politisch konservativen Agrarökonomen und Siedlungsexperten Max Sering. Die Gegenüberstellung mit Sering, an dessen Entmachtung Meyer wesentlichen Anteil hatte, lässt den Ehrgeiz und die Radikalität des ebenso jungen wie erfolgreichen Wissenschaftsorganisators deutlich hervortreten. Die Parallelen zwischen Meyer und dem nur zwei Jahre älteren Werner Best, auf die Stoehr auf der Grundlage von Ulrich Herberts Biographie hinweist, drängen sich geradezu auf.
Als besonders erkenntnisreich erweisen sich zudem die Beiträge, die über den deutschen Tellerrand hinausweisen. Das ist besonders bei dem Aufsatz von Michael Flitner der Fall, der die Debatte um landwirtschaftliche Modernisierung zwischen 1925 und 1939 für Deutschland, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion miteinander vergleicht. Spannend ist dieses Thema nicht zuletzt deshalb, weil in den Diskursen jeweils agrar- und humangenetische Probleme miteinander verknüpft wurden. Trotz einer ähnlichen Ausgangssituation in den 1920er Jahren und trotz gewisser Parallelen in den fachwissenschaftlichen Diskursen wird deutlich, dass in Deutschland die eugenischen Züchtungsphantasien sehr viel stärker in die politische Praxis einfließen konnten als in den USA oder der Sowjetunion. In anderen Fragen waren die Ähnlichkeiten zwischen den drei Gesellschaften größer: Jeweils erlebte die Landwirtschaft von den späten 1920er zu den späten 1930er Jahren einen deutlichen Modernisierungsschub, für den die Entwicklung genetisch basierter Pflanzenzüchtung ebenso bedeutsam war wie die vielfältigen und intensivierten staatlichen Aktivitäten und Eingriffe.
Beim Thema Pflanzenzucht im Nationalsozialismus handelt es sich somit um weit mehr als ein Mauerblümchen. Bedauerlich an dem Band sind lediglich die Überschneidungen zwischen mehreren Aufsätzen. Insgesamt stellt "Autarkie und Ostexpansion" einen wertvollen Beitrag dar zur Geschichte der akademischen Pflanzenzucht, der Agrarforschung sowie des Wechselspiels zwischen Wissenschaft und Politik im "Dritten Reich".
Kiran Klaus Patel, Berlin