ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernd Grün/Hans-Georg Hofer/Karl-Heinz Leven (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus. Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich", Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main 2002, 544 S., brosch., 69,80 EUR.

Mit seinen 20 ausgewählten Themenkreisen liefert der 10. Band der Reihe "Medizingeschichte im Kontext" zur Freiburger Medizinischen Fakultät eine schlüssige Darstellung der komplexen Geschichte einer Medizinischen Fakultät im Dritten Reich. Als Begleitband zu einer Ausstellung, die auf Anregung des Personalrats des Freiburger Klinikums zurückgeht und mit der das Freiburger Institut für Geschichte der Medizin vom Klinikumsvorstand beauftragt wurde, bietet er eine facettenreiche Aufarbeitung des heute zugänglichen und breit zitierten Archivmaterials. Bei der Aufarbeitung jenes Archivmaterials gelingt es den Autoren – zum beträchtlichen Teil Studierende der Freiburger Universität –, die Geschichte der Medizinischen Fakultät und des Klinikums in den breiten zeitgeschichtlichen Kontext einzubetten. Somit muß der formulierte Anspruch, anhand eines gut gesetzten Mosaiks lokaler Elemente zur Entstehung eines neuen Gesamtbildes der Epoche beizutragen, infragegestellt werden. Die Beiträge fügen eher ihre Ergebnisse in ein schon gegebenes Gesamtbild ein, als dass sie vorrangig von der lokalen Ebene ausgehen. Sie gehen aber aufschlussreich ins Detail und auf die Ambivalenz der persönlichen Schicksale ein. Somit tragen sie überzeugend zum Verständnis des komplexen Verhältnisses einer Medizinischen Fakultät im Nationalsozialismus bei.

Als Ausgangspunkt wird der Band mit einer allgemeinen Darstellung über die spät einsetzende geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus und die schwierige Auseinandersetzung der deutschen Ärzteschaft mit ihrer NS-Vergangenheit eingeleitet. In diesem Rahmen wird das mit seiner eigenen Brisanz belastete Beispiel der Freiburger Medizinischen Fakultät reflektiert, die von ihrer Geschichte im Nationalsozialismus erst in den Neunzigerjahren eingeholt wurde, als eine Polemik über die Rolle des bedeutenden Bakteriologen Uhlenhut und des ehemaligen Chefarztes des KZ Buchenwald Hoven in der Presse ausgetragen wurde. In einem zweiten allgemeinen Beitrag wird auf der Basis einer breiten Ideengeschichte des Rassismus, der Eugenik und der Rassenhygiene die Interessenkongruenz zwischen Nationalsozialismus und Medizin herauskristallisiert.

Die folgenden Beiträge widmen sich auf umfassender Quellengrundlage der konkreten Entwicklung der Freiburger Medizinischen Fakultät und ihrem Personal seit dem "alle Maßstäbe" verändernden Großereignis des Ersten Weltkrieges bis in die Zeiten der verheerenden Zerstörungen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Trauma der Niederlage von 1918 hinterließ auch in Freiburg tiefgreifende Spuren beim nationalkonservativ gesinnten Akademikerpersonal des Universitätsklinikums, das einen extremen Nationalismus vertrat, dessen neuartige Gestalt am Beispiel von Uhlenhut, dem Psychiater Hoche und dem Pathologen Aschoff dargestellt wird. Dieser Nationalismus gründete sich vor allem auf eine einheitliche Konzeption des Volkskörpers, die sich während des "Dritten Reiches" weiter radikalisierte und schärfere Konturen annahm.

Den Zeitgeist des Nationalsozialismus antizipierte auch die Forderung nach der Freigabe der Tötung sog. "Entarteter" und "geistig Toter", die durch das damals breit rezipierte Buch "Die Vernichtung lebensunwerten Lebens" des Freiburger Psychiaters Alfred Erich Hoche und des Juristen Karl Binding eine neue Radikalität gewann. Auch wenn diese Forderung nicht neu war und auf Überlegungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, war – wie Andreas Funke betont – seine Ausformulierung durch zwei etablierte Hochschulehrer von besonderem Gewicht im Nutzen-Kosten-Kontext der durch wirtschaftliche Krisen erschütterten Weimarer Republik. Im Hinblick auf die unmittelbare Kongruenz der von Hoche und Binding behandelten Argumente mit dem während des Dritten Reichs eingesetzten Euthanasie-Programm wird der spätere Meinungsumschwung von Hoche erklärungsbedürftig. Für Andreas Funke kann die Ehe Hoches mit einer Jüdin nicht schlüssig seine ambivalente Haltung zu den Thesen der Freigabe beantworten.

Als Kontrast zu Hoche und sein literarisches Engagement steht der berühmte Leiter des Pathologischen Instituts Ludwig Aschoff bisher für eine unbelastete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In seiner Darstellung des politischen Wandelns Ashoffs zeigt Cay-Rüdiger Prüll zu Recht, dass Aschoffs Wirken nicht nur vor dem Hintergrund der einseitigen Unterstützung seiner jüdischen Kollegen bei der Flucht gesehen werden kann. Auch Aschoff half den jungen Medizinern, die sich dem Nationalsozialismus zuwandten, bei der Karriereplanung. Sein altkonservativer Geist wurde ebenfalls durch die nationalsozialistische Weltanschauung beeinflusst. Somit sollte die voreingenommene Kategorie des unbelasteten Hochschullehrers mit Vorsicht behandelt werden. Gerade diese Kategorie von Akademikern und ihre subtile Nähe zum Nationalsozialismus könnten für eine präzisere Einschätzung der Wechselbeziehung zwischen Medizinern und Nationalsozialismus sorgen.

Nur vor dem Hintergrund dieses Entgegenkommens zwischen national gesinnten Hochschulmedizinern und NS-Eliten lässt sich die schnelle Gleichschaltung innerhalb der Medizinischen Fakultät nachvollziehen. Dies bedeutete jedoch keine radikale Veränderung ihrer Gesamtorganisation. Auch wenn die meistens unter schlechten Bedingungen lebenden Assistenten und Studierenden sich zahlreich dem Nationalsozialismus zuwandten, blieb die Reichsdozentenbundesführung von einer relativen Machtlosigkeit gekennzeichnet. Jene Situation wird von Bernd Grün mit der polykratischen These über die Struktur der NS-Diktatur in Verbindung gesetzt. Auf Grund mangelnder Entscheidungen Hitlers gelang es nicht, "ein vollständig nach NS-Vorgaben aufgebautes Hochschul- und Wissenschaftssystem aufzubauen". Im Bereich der Krankenpflege verlief die "Gleichschaltung" reibungslos. Die Gründe hierfür liegen eher bei dem Pragmatismus der Kriegsvorbereitungen bzw. der notwendigen Aufrechterhaltung der krankenpflegerischen Versorgung der Bevölkerung. Als Maßnahme, die vom Regime mit ungeheurer Konsequenz vollzogen wurde, zählt die Vertreibung nichtarischer Mitarbeiter aus den deutschen Universitäten. Wie anderswo hatte die Freiburger Universität sehr schnell unter den Folgen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zu leiden und verlor 39 namentlich bekannte Juden von den 680, die aus deutschen Universitäten vertrieben wurden. Dabei verlief das Exil der jüdischen Mitarbeiter und Professoren der Medizinischen Fakultät sehr unterschiedlich und war von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Exilländer abhängig.

Nach eingehender Betrachtung der Entwicklungen im Kreis des Personals und Mitarbeiter der Medizinischen Fakultät widmet sich der Band dem eigentlich brisanten Kern der NS-Gesundheitspolitik. Auf der Basis einer Synthese der Literatur und der gesetzlichen Grundlagen wird die lokale Praxis der nationalsozialistischen Rassenhygiene in Form der Zwangssterilisierung und Ermordung der psychisch Kranken analysiert. Sie erfolgte in Freiburg ohne effektiven Widerstand der Hochschulmediziner. Entgegen Gisela Bocks These unterschied sich laut Gunther Link der südbadische Raum im Hinblick auf die Zahl der Zwangssterilisierungen nicht von anderen Regionen in Deutschland. Nach der einleitenden Darstellung über die schwierige Auseinandersetzung der deutschen Ärzteschaft mit ihrer NS-Vergangenheit fand nach dem Krieg auch keine Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus statt. Hierfür bot der Widerstand des Pathologen Franz Büchner einen willkommenen Vorwand und wurde als Generalabsolution für die Fakultät verwendet. Dabei handelte es sich aber lediglich um eine punktuelle Widerstandhandlung, die mit keinerlei Konsequenzen für die spätere Zeit verbunden war. In einem öffentlichen Vortrag mit dem Titel "Der Eid des Hippokrates. Die Grundsätze der ärztlichen Ethik" hatte Büchner im November 1941 eindeutig gegen die Euthanasie protestiert. Karl Heinz Leven geht ausführlich auf die christlich gefärbte Argumentation Büchners ein und bettet sie in den ambivalenten Widerstand an der Freiburger Universität ein.

Diese Ambivalenz läßt sich ähnlicher Weise im Rahmen der erzwungenen Zusammenarbeit mit dem Regime verfolgen, wie die Aktivitäten der beratenden Ärzte der Wehrmacht es belegen. Mit der Herausforderung des Krieges wurden die Freiburger Ordinarien unwillkürlich Teil des Systems, indem sie unmittelbar mit den kriegerischen Vorgaben des Regimes konfrontiert wurden. Dabei nutzten sie – wie der Beitrag von Alexander Neumann treffend anhand von zwei entgegengesetzten Beispielen darstellt – den vorhandenen Handlungsspielraum unterschiedlich. In seinem Beitrag über Zwangsarbeitern reflektiert Dieter Speck die Einbindung der Freiburger Universität in das System der Zwangsarbeit, die kein isoliertes Beispiel darstellt. Trotz schlechter Archivlage sind für Freiburg bisher 44 Zwangsarbeiter namentlich nachgewiesenen worden.

Abschließend widmet sich der Band der Zerstörung des Klinikums, das zu mehr als der Hälfte zerstört wurde. Somit war der moderne Klinikneubau, dessen Grundsteinlegung unter der Leitung des badischen Architekten Adolf Lorenz ab 1926 erfolgt war und mittels öffentlicher Gelder trotz wirtschaftlicher Krise mit großer Anstrengung zustande gekommen war, durch einen Bombenangriff in wenigen Minuten zum größten Teil zunichte gemacht worden. Erst 1957 waren fast alle Universitätseinrichtungen, die zum Teil ausgelagert waren, nach Freiburg zurückgekehrt und "akzeptabel untergebracht". Zügig verlief im Vergleich die Wiedereingliederung der oft politisch Vorbelasteten in den Lehrkörper. Die Epuration unterlag somit den politischen Überlegungen der Besatzungsmächte Frankreich und der Vereinigten Staaten, die es sehr schnell mit einem "rasanten Meinungsumschwung" in der Bevölkerung zu tun hatten und deshalb auf eine umfassende Revision der von Suspendierung oder Sühnemaßnahmen betroffenen Hochschullehrer drängten.

Die Notwendigkeit einer reibungslosen medizinischen Weiterversorgung der Bevölkerung bot ein zusätzliches Argument. Vor diesem Hintergrund war aber der Weg zu einer Auseinandersetzung mit der Medizin im Nationalsozialismus weitgehend gesperrt. So rundet sich der Band mit dem ersten Beitrag ab. Zusätzlich zu dem Begleitband ist auch ein ansprechender Katalog erhältlich: Hans-Georg Hofer/Karl-Heinz Leven (Hrsg.), Die Freiburger Medizinische Fakultät im Nationalsozialismus. Katalog einer Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, Verlag Peter Lang, Frankfurt/M, 14,90 EUR. Darin werden Photos der erwähnten Hochschulmediziner, Archivalien, Zeitungsauszüge, Pläne und alte Aufnahmen des Klinikneubaus aber auch Diagramme und Karten mit kurzen Zusammenfassungen der Beiträge des Begleitbands versehen.

Anne Cottebrune, Heidelberg





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