ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martina Ritter/Barbara Wattendorf (Hrsg.), Sprünge, Brüche, Brücken. Debatten zur politischen Kultur in Russland aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Politikwissenschaft (= Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des Europäischen Ostens, Band 223), Duncker & Humblot, Berlin 2002, 273 S., brosch., 39,90 EUR.

Zehn Jahre Transformation haben gezeigt, dass im heutigen Russland Strukturelemente der sowjetischen Gesellschaft durchaus überlebt haben, sodass sich die berechtigte Frage stellt, ob die Modernisierungstheorien westlicher Ökonomen überhaupt auf Russland anwendbar sind oder ob nicht viel eher kulturelle Deutungsmuster, die sich aus der russischen Geschichte speisen, heranzuziehen sind. Der vorliegende Sammelband auf Russland spezialisierter Historiker, Politologen und Soziologen rückt diese Schieflage zurecht. Gerade der Demokratisierungsprozess erweist sich in einer von Patronage gekennzeichneten russischen Gesellschaft, in der eine Rückbesinnung auf die imperiale Tradition des Zarenreiches und der Sowjetunion zu beobachten ist, als besonders schwierig. Während Francis Fukuyama nach dem Zerfall der Sowjetunion das "Ende der Geschichte" prognostiziert hat, kommen die Autorinnen und Autoren zum gegenteiligen Schluss, dass die Geschichte in den zivilisatorischen Diskurs des heutigen Russland zurückkehrt. Jutta Scherrer zeichnet den Aufstieg der Kulturologie nach, die an die Stelle des aus dem Westen importierten Marxismus getreten ist und zugleich mit dem Verweis auf die "russischen Tugenden" wie Kollektivität (sobornost’), Ganzheit (celostnost’) und Spiritualität (duchovnost’) eine Entgegnung auf westliche Modernisierungsdebatten darstellt. Die Wiederentdeckung der Kultur wird aber auch vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Dominanz der Sozialgeschichte in der Sowjetunion verständlich, während alle kulturellen Deutungsmuster der Geschichte in den Bereich des Okkulten verwiesen wurden. Barbara Wattendorf und Stefan Wiederkehr, Michael Kleineberg und Markus Kaiser thematisieren in ihren Beiträgen die Renaissance der Geopolitik, hier vor allem des Eurasismus, einer slavophilen Denkströmung des 19. Jahrhunderts, die in Russland eine Brücke zwischen Europa und Asien sah. Im heutigen Eurasismus äußert sich – ähnlich wie im 19. Jahrhundert – ein Hegemonialanspruch Russlands, der seine Erklärung in der russischen Geschichte findet, denn im Laufe des 16. Jahrhunderts begann mit der Kolonisierung Sibiriens der russische Vorstoß nach Asien. Unterdessen wäre es falsch zu behaupten, dass "der Rückgriff auf simples, dem Raum verhaftetes Denken" (Wattendorf) allein auf Russland beschränkt und dies mit mangelnder Demokratie zu erklären ist. Auch in den USA ist gegenwärtig eine Aufwertung der Geopolitik zu beobachten und stets definierte sich die amerikanische Außenpolitik durch eine euro-atlantische und eine asiatisch-pazifische Komponente. Der äußere Hegemonialanspruch des heutigen Russlands findet seine innenpolitische Entsprechung in der Suche nach "neuen Helden". Die Beiträge von Martina Ritter, Elena Zdravomysla, Christine Eifler, Andreas Langenohl, Svetlana Ajvasova und Grigorij Kertman beleuchten den Geschlechterdiskurs in der postsowjetischen Gesellschaft. Auffällig ist, dass immer mehr junge russische Frauen in die Streitkräfte drängen, die bis zum Ende der Sowjetunion als traditioneller Männerbund galten. Die Soldatinnen zeigen "eine töchterliche Liebe zum Vaterland" und tragen damit zur Verwischung der Geschlechterkategorien bei. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass Frauen sich aus der Politik zurückziehen. So brachte es ein Abgeordneter der Jabloko-Partei auf den Punkt: "(...) Die heutige Politik verlangt eine besondere Aggressivität. Frauen sind im allgemeinen weniger aggressiv als Männer und verlieren daher selbstverständlich in einem harten Kampf. Es gibt eine These (...), dass die weiblichen und männlichen Tiere unterschiedliche Rollen in der Population spielen." Findet die These Samuel Huntingtons vom "clash of civilization" in der russischen Geopolitik ihre Verfechter, so erfährt auch der innenpolitische Diskurs eine biologistische Determination, indem hier ebenfalls der "Kampf des Starken gegen das Schwache" durchschimmert. Damit zeigt sich auch das Dilemma, auf das Galina Michaleva-Luchterhandt in ihrem Beitrag hinweist: die rudimentäre Parteienlandschaft, die Russland – so Melanie Tatur – wesentlich von Polen unterscheidet. Eine breite demokratische Bewegung wie die Solidarnoœæ, die in der polnischen Gesellschaft einen Konsens über politische Regeln und Prinzipien schuf, hat es in Russland nicht gegeben. Schwierig gestaltet sich – dem Urteil von Claudia Lange und Kerstin Zimmer anschließend – die nationale Identitätsfindung in der Ukraine, wo sich der Westen, der historisch lange Zeit unter dem Einfluss des Habsburger Reiches und Polens gestanden hat, bewusst zum westeuropäischen Erbe bekennt, um sich vom "asiatischen Russland" abzugrenzen, während sich der Osten nach Russland orientiert. Insgesamt ist es dem Autorenkollektiv in überzeugender Weise gelungen, die Paradoxien des Transformationsprozesses in der postsowjetischen Gesellschaft mittels einer profunden historischen und kulturwissenschaftlichen Analyse herauszuarbeiten.

Eva-Maria Stolberg, Bonn


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | März 2003