ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rupert M. Scheule, Beichte und Selbstreflexion. Eine Sozialgeschichte katholischer Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Campus, Frankfurt/Main-New York 2002, 361 S., kart., 39,90 EUR.

Das Institut der Beichte in der römisch-katholischen Kirche ist ein wichtiges Thema sozialgeschichtlicher Forschung, wenn man nur an seine Deutung als Generator autobiographischer Selbstthematisierung durch Alois Hahn oder an die Thesen von Michel Foucault über die Rolle der Beichte im Dispositiv der Sexualität denkt. Für den Zeitraum des 19. und 20. Jahrhunderts liegen bislang nur wenige historische Darstellungen vor, aus denen ein 1990 erschienener Aufsatz von Edith Saurer herausragt. Die Studie des Historikers und Pastoraltheologen Rupert M. Scheule, eine bei Michael Mitterauer entstandene Dissertation, vermag diese Forschungslücke nun zumindest ansatzweise zu schließen. Der Verfasser stützt sich auf eine Quellenbasis, die er mit Hilfe eines 1995 an die Informanten der "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" in Wien ergangenen Schreibaufrufes selbst erzeugt hat. Von den 69 eingegangenen lebensgeschichtlichen Selbstzeugnissen österreichischer Katholiken der Geburtsjahrgänge 1904 bis 1938 stammen 50 von Frauen, 19 von Männern. 46 dieser Dokumente werden in der vorliegenden Studie in Teilen ediert. Damit ist eine grundlegende Grenze der Arbeit benannt. Es handelt sich nicht um eine umfassende Forschungsarbeit zur Geschichte der Beichtpraxis, sondern im Kern um die Dokumentation und thematisch gegliederte Auswertung eines begrenzten Quellenkorpus. Diese wird nur äußerst kursorisch durch eine Auseinandersetzung mit der sehr umfangreichen pastoraltheologischen und –psychologischen Literatur ergänzt.

Das einleitend (S. 13-57) geschilderte Forschungsinteresse ist ein doppeltes. Zum einen soll die erhebliche Intensivierung der Beichtpraxis seit dem späten 19. Jahrhundert, aber auch ihr plötzlicher Zusammenbruch seit Ende der 1960er Jahre als frömmigkeitsgeschichtliches Phänomen interpretiert werden. Zum anderen werden die Selbstzeugnisse auf ihre Rolle bei der autobiographischen Interpretation und Bewältigung der Beichterfahrung hin gelesen. Im zweiten Hauptteil (S. 61-264) werden die eindringlichsten Passagen aus den autobiographischen Texten in thematischer Ordnung dokumentiert und danach jeweils auf wenigen Seiten kontextualisiert. Dabei werden die Beichte im Kinder- und Jugendalter, Erwachsenenbeichten im Hinblick auf Ehesorgen, Abtreibungen, Skrupulanz und Klosterbeichten jeweils gesondert vorgestellt. Quellenausschnitte und Erläuterungen über psychotherapeutische Aspekte des Beichtgeschehens und das "Auswahlchristentum" (Paul M. Zulehner), in dem getaufte Christen sich auf dem Markt der Transzendenz ein für ihre Bedürfnisse angemessenes Angebot selektiv auswählen, beschließen diesen Überblick.

Der knappe abschließende Teil (S. 267-324) interpretiert das Material zunächst im Hinblick auf seine Aussagekraft für Intensivierung und Krise des Beichtgeschehens im 20. Jahrhundert. Die auf Foucault zurückgehende These des Geständniszwangs wird vom Verfasser durch Hinweis auf den hochgradig schematisierten Charakter des Beichtbekenntnisses relativiert. Macht entfaltete die Beichte vielmehr dadurch, dass die Teilnahme an ihr den Zugang zur Gemeinschaft der Kommunikanten regulierte, wobei die Selbst-Exklusion aus diesem Kreis erhebliche Gewissensqualen und soziale Stigmatisierung nach sich ziehen konnte. Den Niedergang der Ohrenbeichte deutet Scheule nicht im Kontext des Enttraditionalisierungsschubes der sechziger Jahre, sondern "endogen" als Folge der extrem gesteigerten Beichthäufigkeit, welche das "Programm zur Selbstzerstörung gleichsam schon in sich" trug. Dies führte zu "Skrupulanz und mechanistischer Routine" in einer ritualisierten Praxis (S. 284). Das Bedürfnis nach Selbstthematisierung in der Interaktion mit einem Geistlichen und nach psychodynamischer Seelenführung war demnach in der Folgezeit im Geistlichen Gespräch weitaus besser aufgehoben. Diese insgesamt überzeugende These hätte an Plausibilität und Komplexität sehr gewonnen, wenn der Verfasser das ausufernd umfangreiche Material zur Diskussion psychotherapeutischer Konzepte in der katholischen Kirche seit 1960 stärker herangezogen hätte. Eine anschließende Interpretation deutet die in den Quellen aufscheinende autobiographische Bewältigungsstrategie als eine "paradigmatische" Form (S. 303 ff.), in der die Probleme mit dem Beichtsakrament bestimmten Deutungskategorien kirchlicher Zusammenhänge untergeordnet werden, welche die Verfasser der Texte in der religiösen Sozialisation erworben hatten.

Der konzeptionelle Rahmen und die Materialbasis dieser Studie sind viel zu eng angesetzt, um sie tatsächlich als eine umfassende Sozialgeschichte der Bußpraxis im 20. Jahrhundert werten zu können. Da diese Praxis nicht nur der steten pastoraltheologischen Deutung, sondern auch der intensiven kirchlich-administrativen Normierung und Regulierung unterlag, wäre dafür auch eine Heranziehung des einschlägigen Quellenmaterials in den Bistumsarchiven nötig gewesen. Die Studie vermittelt allerdings ungemein dichte und überzeugend interpretierte Einblicke in die subjektive Verarbeitung des Beichtgeschehens und sie wird dafür künftig von jedem an der katholischen Frömmigkeit im 20. Jahrhundert interessierten Historiker konsultiert werden müssen.

Benjamin Ziemann, Bochum


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