ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Laird M. Easton, The Red Count: The Life and Times of Harry Kessler, University of California Press, Berkeley etc. 2002, 498 S. , 20 Abb., Ln., 24,95 £.

"Wer die Handschrift Harry Graf Kesslers in seinen Tagebüchern sieht, der muss denken dieser Mann sei des Nachts bei strömenden Regen im Galopp geritten und habe hierbei die Feder über das Papier seiner Kladden gleiten lassen."(Fn.1) Diese Einschätzung hörte der Verfasser dieser Buchbesprechung zu Beginn seiner eigenen Recherchen zum Kontakt zwischen Harry Graf Kessler und Walther Rathenau (Fn.2) von einer Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Sehr bald sollte er erkennen, dass die kundige und hilfsbereite Literaturwissenschaftlerin nicht gescherzt hatte. Wenn man allein die Handschrift Kesslers vor Augen hat, dann lässt sich ermessen, welche Leistung es ist, sich durch seine Tagebücher, Briefe und Manuskripte hindurch zu arbeiten.

Laird M. Easton hat es in einer Biographie über Harry Graf Kessler unternommen und ist dabei mehr als erfolgreich gewesen. Er tat gut daran angesichts des komplexen "Untersuchungsgegenstandes" eine "weiche Fragestellung" zu bemühen, mit der er die Darstellung von Kesslers Vielfältigkeit nicht vorneherein beschränkte.(Fn.3) Seine Untersuchung vermag es, ein Leben nachzuzeichnen, dass zu den schillerndsten des fin de siécle und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gezählt werden kann. Der kulturhistorisch arbeitende Dozent von der California State University, Chico, hat über zehn Jahre die Kraft besessen, nicht bei einzelnen Aspekten des Wirkens von Kessler zu verharren, sondern nach dem Ganzen zu fragen. Was ist dies? Man könnte geneigt sein, zu sagen Kessler sei ein Spiegel seiner Zeit gewesen. Ein Spiegel, hinter dem die Person kaum erkennbar ist. Easton widerspricht dem und meint, Kessler in seinen Aufzeichnungen und Schriften erkennen und untersuchen zu können. Hierbei bedient er sich eines erzählerischen Stils, der angenehm zu lesen ist. Der Verweis auf mögliche Forschungsfragen bleibt – wenn denn überhaupt - den Fußnoten vorbehalten. Über kleinere Ungenauigkeiten – vermutlich aufgrund eines mangelhaften Lektorates im Verlag – kann man hinwegsehen. (Fn.4)

Verträgt Kessler noch eine Biographie? Dem vorzüglichen Ausstellungskatalog des Deutschen Literaturarchivs folgten ja bereits die Monographien von Burkhard Stenzel und Peter Grupp. (Fn.5) Während dem aus der Politikgeschichte kommenden Grupp der Kunstliebhaber und Ästhet Kessler eher fremd blieb (Fn.6), ihm der Generalist Kessler in einer Zeit des Spezialistentum als tragischer Held zu scheitern schien (Fn.7), ging Stenzel auf den homo politicus Kessler weniger ein. Allerdings zeigte er stärker die vielfältigen Leistungen Kesslers im Feld der Kultur auf. Er betonte jedoch wie Grupp, den ganzen Menschen Kessler zeigen zu wollen. (Fn.8) Easton umfasst hier in Ansatz und Umsetzung mehr und schlägt zugleich die Brücke zwischen diesen beiden bereits erschienenen wertvollen Arbeiten. Die Person Harry Graf Kesslers, wie Easton sie ganzheitlich zeichnet, umspannt hierbei alles, was Leben und Werk auszumachen scheinen: die vielgestaltige Suche nach sich selbst im Dialog mit der Zeit, verbunden mit der Kraft zur beständig neuen Selbsterschaffung. (Fn.9)

Es gelingt dem Autor wie in einem psychotherapeutischen Prozess, gleichzeitig die Figur in sich aufzurichten und doch kritische Distanz zu ihr zu bewahren. (Fn.10) Keine Heldengeschichte wird hier berichtet. Vielmehr treten neben den Erfolgen auch das Scheitern Kesslers – etwa im politischen Bereich – oder negative Seiten wie sein Antisemitismus zutage. Eine Übersetzung dieses Werkes ins Deutsche wäre außerordentlich wünschenswert. Dem Buch sind viele Leser zu wünschen.

Christian Schölzel, München





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