ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Silke Wenk, (Hrsg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des Nationalsozialistischen Genozids, Campus Verlag, Frankfurt/Main 2002, 426 S., brosch., 29,90 EUR.

Judith Tydor Baumel machte zu Beginn ihrer Forschung zur Geschlechterrepräsentation israelischer Shoah-Denkmäler folgende aussagekräftige Erfahrung: Sie bat in der Gedenkstätte Yad Vashem, ihr Skulpturen zu zeigen, die Frauen während der Shoah darstellten. Beim Rundgang durch die Skulpturensammlung von Yad Vashem stellte sich jede Figur, die ihr der Direktor des historischen Museums als Darstellung einer Frau während der Shoah zeigen wollte, als männliche heraus. Auch die letzte Skulptur, von der ihr Begleiter überzeugt war, dass er nun eine weibliche Shoah-Repräsentation vorzeigen könnte, stellte einen orthodoxen männlichen Juden dar. Die "neutrale" Reaktion des Direktors in dieser Situation: "Aber was macht es aus, ob die Statue ein Mann oder eine Frau ist - schließlich sahen am Ende des Krieges doch alle gleich aus, oder nicht?"

Damit wird eine grundsätzliche Debatte, um die auch unter HistorikerInnen seit Einführung der Gender-Studies gestritten wird, angesprochen: "Kann man wirklich von einer bestimmten weiblichen Erfahrung während des Holocaust sprechen oder löscht das ultimative Schicksal aller Juden die Geschlechterdifferenz aus, die zwar in den Leben der Opfer eine Rolle spielte, selten aber in ihrem Tod?" Die Frage nach der Geschlechterdifferenz angesichts des Ausmaßes der Verbrechen des Nationalsozialismus mag auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen. Auf den zweiten, genaueren Blick wird deutlich, dass gerade die Frage nach gender, d.h. nach der Konstruktion der Geschlechter, großen Einfluss auf die Wahrnehmung und Einschätzung des Holocaust hatte und hat. Sie gehört zu den Ausgangsthesen der Herausgeberinnen des Sammelbandes "Gedächtnis und Geschlecht". In diesem Band sind in erweiterter Form die Beiträge der gleichnamigen, kontrovers diskutierten Konferenz veröffentlicht, die 1999 in der Gedenkstätte Ravensbrück stattfand.

Angesichts der Tatsache, dass viele der Überlebenden mittlerweile verstorben sind und authentische Zeitzeugnisse immer seltener werden, bleibt zur Bearbeitung des Holocaust der Rückgriff auf Repräsentationen, auf Vermitteltes. Zu Recht stellen die Herausgeberinnen fest, dass die historischen Quellen (Zeugnisse von Überlebenden, Akten, Bildmaterial, etc.) durch spezifische Deutungen bestimmt werden, die zu erfassen und zu hinterfragen sind. "Die Verwechslung analysierter Deutungsmuster in den historischen Ereignissen verweist darauf, in welcher Weise Repräsentationen selbst ‚Wirklichkeit’ werden und Interpretationen von Geschichte anstelle des Faktischen treten können." Es sei also nach dem "Wie" und dem "Warum" der Darstellung zu fragen. In dem vorliegendem Band wird untersucht, was im kollektiven Gedächtnis bewahrt und was (beiläufig, ohne bewussten Willen) vergessen wird. Nur so könne historische Forschung die angebliche Natürlichkeit und Universalität von männlichen und weiblichen Attributen widerlegen, die gerade bei der Rezeption des Holocaust immer wieder vertreten seien: Es werde von männlichen Helden und weiblichen Opfern gesprochen, männliche jüdische Opfer würden, indem man sie als schwach und hilflos darstelle, feminisiert. Die Herausgeberinnen plädieren dafür, die Kategorien, Geschlecht, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus aufeinander bezogen zu begreifen und zu untersuchen, Hierarchisierungen innerhalb dieses Kategoriensystems seien kritisch zu hinterfragen. "Konstruktionen, ihre Funktionen und Wirkungen zu befragen, heißt, die unzähligen Differenzen wieder in Erinnerung zu bringen - gegen die Abwehr und gegen die Verleugnung des ‚kollektiven Gedächtnisses’, über das sich jeweils eine spezifische, eben auch ‚nationale Identität’ bildet."

Die Beiträge des Sammelbandes sind jeweils im Hinblick auf den Bezug von sozialem Gedächtnis und Geschlechterdifferenz nach folgenden übergeordneten Begriffen geordnet: Verleugnungen, Sakralisierungen, Sexualisierungen und Verschiebungen.

Unter Verleugnung wird eine Art Abwehrhaltung, die das eigene Selbstverständnis unbeschadet lässt, verstanden. Deutlich wird dies insbesondere am Umgang mit sexualisierter Gewalt während des Holocaust nach 1945. Christl Wickert untersucht den Umgang mit der Existenz von Lagerbordellen für männliche Häftlinge, in denen sich weibliche Häftlinge prostituieren mussten. Die Bordelle wurden vergessen, ihre Spuren auf den Lagergeländen in der Regel beseitigt. Allein ihre Existenz stellte die Position der Häftlinge infrage, gleichzeitig wird die gesellschaftliche Normalität und Wertung von Prostitution widergespiegelt. Das Thema ist in der Aufarbeitung des Holocaust immer noch ein Tabu, sicherlich zum Schaden der betroffenen Frauen. Ähnliches stellt Jolande Withuis für die Niederlande vor. Versteckte jüdische Frauen und Mädchen waren sexuellen Übergriffen ihrer Retter ausgesetzt. Auch diese Erinnerung würde verdrängt, sie spricht von "sozialer Amnesie", um weiterhin die eigene Unschuld behaupten zu können.

"Heroische Männlichkeit als derjenigen Instanz, die ein Opfer (sacrifice) zu bringen imstande ist, steht das bloße Opfersein (victim) gegenüber, in diesem Sinne folgt der mit Sakralisierungen überschriebene Abschnitt. Aufschlussreich ist die Analyse von Susanne Leward zur Bildformel der Pieta, ebenso der Beitrag von Isabella Freda, der sich mit dem Besuch Ronald Reagans des Soldatenfriedhofs in Bitburg 1984 auseinandersetzt. Statt Geschichte aufzudecken, offerierte er eine funktionalisierte Globalerzählung des Holocaust, in der Anne Frank, deren authentischer Stimme in der Erinnerung wenig Gehör geschenkt wird, und ein junger deutscher Soldat gleichgesetzt werden. Reagans Tenor: Alle waren Opfer, daraus erwachse moralische Verpflichtung und dies alles vor dem Hintergrund des "Kalten Krieges".

Das nachfolgende Kapitel thematisiert, wie z.B. die Dichotomie des Frauenbildes (die reine, unschuldige, entsexualisierte Frau gegenüber der bösen, verführten und verführenden, sexualisierten Frau) zur Erklärung des Faschismus benutzt wurde, sei es im Umgang mit NS-Täterinnen, oder mit weiblichen Angehörigen von Tätern, z.B. mit Ilse Koch, der Ehefrau des Kommandanten von Buchenwald. "Symbolisierte der mit Koch verbundene Lampenschirm unmittelbar nach 1945 noch die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern begangenen Verbrechen, so bedeutete die Verurteilung der ‚Kommandeuse von Buchenwald’ Anfang der 50er Jahre bereits eine Katharsis für alle "anständigen Deutschen."

Der letzte Abschnitt, der sich mit Formen der Re-Etablierung tradierter Geschlechterverhältnisse unter gänzlich anderen Vorzeichen befasst, ist mit "Verschiebungen" überschrieben. Auffällig in diesem Kontext ist sicherlich der "babyboom" jüdischer Überlebender in den Lagern für "Displaced Persons", mit denen sich Anita Grossmann beschäftigt. Schwangere Frauen und Mütter als Inbegriff der Hoffnung, des "das Leben geht weiter", statt Bearbeitung der grauenhaften und schmerzlichen Erfahrungen des Holocaust. Ebenso interessant sind Unterschiede der Verschiebungen in den beiden politisch unterschiedlichen deutschen Staaten. Im Westen fand zur Aufarbeitung eine Verschiebung ins Christlich-Religiöse statt, erinnert sei an die Pieta`, im Osten wurde mittels des Bildes vom antifaschistischen männlichen Helden die tradierten Geschlechterkategorien präsentiert und reproduziert. Beides u.a. mittels der Kunst, wie Kathrin Hoffmann-Curtius aufzeigt.

Der vorliegende, bislang einzigartige Sammelband "Gedächtnis und Geschlecht" nähert sich der Thematik vielfältig, hintergründig und detailreich an. Die Notwendigkeit der Beachtung der Kategorie gender gerade bei der historischen Aufarbeitung des Holocaust zur Erfassung der widersprüchlichen Wirklichkeit wird deutlich. Zudem bieten die einzelnen Beiträge der unterschiedlichen VerfasserInnen Anregungen für weitergehende Fragestellungen. Das letzte Wort den Herausgeberinnen: Es geht auch darum, "selbstkritisch zu fragen, welche Bedeutung, welchen "Sinn" wir, die Nachgeborenen, an unterschiedlichsten Orten der Welt geboren und aufgewachsen, dem historischen Ereignis des NS-Genozidsgeben und geben wollen, in einer Welt, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts keineswegs einfacher geworden ist."

Raphaela Kula, Bielefeld


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