ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stephan Linck, Der Ordnung verpflichtet: Deutsche Polizei 1933-1949. Der Fall Flensburg (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2000, 368 S., kart., 41 EUR.

Mit seiner Kieler Dissertation präsentiert Stephan Linck mehr als die im Titel angekündigte Geschichte der Flensburger Polizei zwischen Machtergreifung und unmittelbarer Nachkriegszeit. Durch eine umfassende Kontextualisierung des Flensburger Falles rekonstruiert Linck die Geschichte der Deutschen Polizei aus einer mikroanalytischen Perspektive, wobei er gekonnt zwischen der Makro- und Mikroebene vermittelt. Die Konzentration auf einen Fall – der als solcher ausgesprochen interessant ist – ermöglicht die Berücksichtigung von zahlreichen konkreten Beispielen von Polizeikarrieren und Strategien der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, die interessante und zum Nachdenken anregende Einblicke in Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung der Deutschen Polizei gewähren.

Aus dieser Nahperspektive betrachtet, gemahnt die Deutsche Polizei in den letzten Tagen des Dritten Reiches an die Karikatur des blinden Gehorsams, wie sie in der Geschichte vom braven Soldaten Schwejk in ihrer ganzen Absurdität dargestellt wurde. Der Befehl vom 6. Mai 1945 verlangte etwa von den Polizeidienststellen, dass Führerbilder "auf dem bisherigen Platz verbleiben [sollten]." Wie der Befehl weiter ausführte, wollte man damit dem Feind zeigen, "daß wir auch nach seinem Tode und auch nach einem verlorenen Krieg in Reue zu unserem Führer stehen …" (S. 142).

Wenn auch die Führerbilder in den Büroräumen das Ende des Krieges nicht überdauerten, gab es dennoch eine erhebliche personelle und ideelle Kontinuität zwischen der NS-Herrschaft und der demokratischen Polizei der Nachkriegszeit, wie Linck anhand detaillierter Studien demonstriert. Den Hintergründen für diese Kontinuität spürt er in den Strategieplanungen der Alliierten – vor allem dem Vorbild der britischen Kolonialpolitik – und der Personalpolitik der deutschen Polizeibehörden in der Phase des institutionellen Wiederaufbaus nach.

Durch eine differenzierte Analyse der Entnazifizierungs- und Einstellungsverhandlungen kann Linck überzeugend auf die unterschiedlichen Strategien der britischen Public Safety Branch und der Field Security Sections hinweisen. Die PSB war am Aufbau einer funktionierenden polizeilichen Infrastruktur interessiert und bereit, Kompromisse im Hinblick auf die Biographie vor allem der Kripo-Beamten zu machen. Dagegen versuchten die FSS eine möglichst umfassende Entnazifizierung durchzusetzen. Das Vorgehen der PSB wurde, laut Linck, von der Fiktion einer unpolitischen kriminalpolizeilichen Ermittlungstätigkeit im Reichskriminalpolizeiamt angeleitet: "Bezeichnenderweise wurde die in Flensburg unvernichtet gebliebene Steckbriefkartei der NS-Zeit landesweit weiterverwendet. Hier zeigt sich die Kontinuität der kriminalpolizeilichen Tätigkeit, die der personellen Kontinuität bei der Kripo entspricht" (S. 200). In den Verfahren zur Entschädigung der Opfer des NS-Regimes wurden diese Datenbestände außerdem dazu benutzt, um die Anträge von sogenannten Berufsverbrechern und Asozialen abzulehnen. Denn die Verwahrung von gefährlichen Gewohnheitsverbrechern in einem Lager widersprach nicht der allgemeinen Vorstellung von Menschenwürde – so die Rechtsauffassung der deutschen Justiz in den Nachkriegsjahren (S. 321).

Linck zeichnet das Bild einer Polizei, die in der radikalen Präventionspolitik des Dritten Reiches ihre Vorstellungen von Effizienz und notwendiger Flexibilität im Vorgehen gegen die Feinde der inneren Ordnung erfüllt fand und die sich auch in einem demokratischen Verfassungsstaat einen ähnlichen Handlungsspielraum sichern wollte. Demokratische und rechtsstaatliche Beschränkungen des polizeilichen Handelns wurden daher von den deutschen Polizeistrategen mit großer Skepsis gesehen und ihre Einführung zu hintertreiben versucht. Es ist sicher ein Vorzug von Lincks Studie, dass er die Übergänge sowohl von der Weimarer Republik ins Dritte Reich als auch vom Dritten Reich in die Nachkriegszeit erfasst. Dadurch kann er ein komplexes Bild von Kontinuität und Brüchen zeichnen, das über den rein personalpolitischen Gesichtspunkt hinausgeht.

Anhand einer subtilen Analyse der überlieferten Bewerbungsunterlagen aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren zeichnet Linck ein spannendes Panorama von verdrängten und stilisierten Kriegserlebnissen in den Lebensläufen von Bewerbern um frei gewordene Beamtenstellen bei der Polizei. Die Normalität des Einsatzes in der Bekämpfung von Feinden aller Art drückt sich in der Verwendung von lapidaren Formulierungen aus, mit denen die unterschiedlichen Aufgabenbereiche mehr verdeckt als angesprochen wurden. Es zeigt sich in den zitierten Textstellen ein Gestus, der die einzelnen Bewerber als Räder einer Polizeimaschine inszenierte, die letztlich keine Wahlmöglichkeit hatten. Wie Lincks Analyse von Polizeikarrieren während des Dritten Reiches zeigt, wurde diese Darstellung nicht gänzlich den Spielräumen der einzelnen Beamten gerecht. Für die Beamten im sogenannten Osteinsatz gab es durchaus die Möglichkeit, sich dem mörderischen Alltag zu entziehen – die Nachteile waren vergleichsweise gering.

Zusammenfassend möchte ich nochmals die Komplexität dieser Studie betonen, die zudem in einem klaren und verständlichen Duktus geschrieben ist. Die geschickte Verbindung zwischen Anschaulichkeit und Abstraktion vermittelt dem Leser einen nachhaltigen Eindruck von der Theorie und Praxis polizeilicher Arbeit in Zeiten des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs. Ein lesenswertes Buch für jeden, der sich für die Kriegs- und Nachkriegszeit in Deutschland interessiert.

Peter Becker, Florenz


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