ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Insa Meinen, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Edition Temmen, Bremen 2002, 320 S., geb., 22,50 EUR.

"Je länger der Aufenthalt deutscher Truppen in den besetzten Gebieten andauert, je geordneter und friedensähnlicher die Bedingungen werden, unter denen der Soldat lebt und Dienst tut, um so mehr bedarf auch die sexuelle Frage in all ihren Umständen und Folgerungen ernster Beachtung. Bei der Verschiedenartigkeit der Veranlagung der Menschen ist es dabei unausbleiblich, dass auf sexuellem Gebiet da und dort Spannungen und Nöte auftreten, denen gegenüber man die Augen nicht verschließen kann und darf. Mit einem Verbot geschlechtlicher Betätigung in den besetzten Gebieten ist die Frage jedenfalls nicht zu lösen" (Anl. 1 zu ObdH, 6.9.1941 - "Betr. Selbstzucht", ebd.). In diesem Sinne äußerte sich der Oberbefehlshaber des Heeresoberkommandos von Brauchitsch bereits Ende Juli 1940. Der männliche Sexualtrieb sollte in geregelte Bahnen gelenkt werden, zum einen, um Vergewaltigungen, die das Bild der Besatzer beschädigen könnten, zu verhindern. Zum anderen sollten homosexuelle Kontakte, die nicht in das Bild des Mannes der NS-Ideologie passten, innerhalb der Truppe verhindert werden. Die "sexuelle Frage" wurde beachtet, es ist bekannt, dass die Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in den von ihr besetzten Gebieten Bordelle einrichtete, sowohl für die einfachen Soldaten als auch für die Offiziere. Ungeklärt ist nach wie vor, wie die Einrichtung und der Betrieb der Wehrmachtsbordelle in den westlich und östlich besetzten Gebieten stattfand. Zudem ist die Frage zu klären, welcher Zusammenhang zwischen Militär, Prostitution und sexualisierter Gewalt besteht. Insa Meinen untersucht in ihrer detaillierten Studie das Vorgehen der Wehrmacht im besetzten Frankreich. Sie fragt nach den Gründen, der Zielrichtung und der praktischen Durchsetzung dieser Reglementierung des Kontaktes zwischen Besatzungssoldaten und weiblicher Bevölkerung: "Wie gingen die Besatzungsbehörden gegen Prostituierte und prostitutionsverdächtige Französinnen vor? In welchem Ausmaß war der Besatzungsalltag durch Eingriffe der Wehrmacht in die deutsch-französischen Geschlechterbeziehungen geprägt - Eingriffe, die überdies der Kooperation der französischen Behörden bedurften?"

Im Juni 1940, gleich nach der Besatzung Frankreichs, begann die Wehrmacht mit der Einrichtung eines kontrollierten Bordellsystems. Zurückgegriffen wurde auf die bereits in Frankreich etablierte Bordellstruktur, bestehende Bordelle wurden von der Wehrmacht übernommen und ausschließlich für deutsche Wehrmachtsangehörige in Betrieb gehalten. Unkontrollierte (sexuelle) Kontakte zwischen weiblicher Zivilbevölkerung und männlichen Besatzern sollten ausgeschlossen werden. Im Vordergrund standen sanitätspolitische Überlegungen, Geschlechtskrankheiten sollten bekämpft werden. Nach Ansicht von Meinen verfolgte die Wehrmacht mit diesen Maßnahmen im Sinne der NS-Rassenideologie bevölkerungspolitische Ziele, ein enger Zusammenhang zwischen Geschlechtskrankheiten und minderwertigem Erbgut wurde betont. Aufschlussreich ist ihr Bezug auf zeitgenössische sexualpolitische Diskurse, die dieser Argumentation Vorschub leisteten. Außerdem garantierte dieses System, so Meinen, den deutschen Soldaten die Partizipation an der Besatzung, machte sie zu Nutznießern derselben und bot Kompensation für den Kriegsalltag. "Überdies fungierte das besetzte Frankreich... für die Wehrmacht als ‚rest and recreation’-Basis, in die periodisch Einheiten aus dem Osten zur ‚Auffrischung’ verlegt wurden" und sicherlich die Loyalität der Truppe sicherte. Letztlich sollten gerade in Frankreich die Truppen nicht mit ihrem Verhalten das propagierte Bild der überlegenen und ordentlichen Besatzungsmacht infrage stellen.

Die französische Zivilverwaltung, die mit der Wehrmacht bei dieser Reglementierung kooperierte, habe, so Meinen, dafür eigene Gründe gehabt: Vorrangiges Interesse sei die Aufrechterhaltung des Geschlechterverhältnisses gewesen. Das Vichy-Regime propagierte sehr strikte Vorstellungen von "Weiblichkeit" und "Männlichkeit", weibliche Emanzipationsbestrebungen der 30er-Jahre wurden zurückgewiesen, bei der Erneuerung der Gesellschaft wurde der Platz der Frau am Herd und in der Familie gesehen. Deutlich wurde dies insbesondere durch die strikte Verfolgung von verheirateten Französinnen, deren Ehemänner in deutscher Kriegsgefangenschaft waren, durch die französischen Behörden.

Das Bordellsystem der Wehrmacht wurde vom Sanitätsdienst eingerichtet und kontrolliert: Räumlichkeiten wurden angemietet, Bordelle verpachtet, Prostituierte und Soldaten wurden medizinisch überwacht, auch die Anwerbung und Auswahl der Prostituierten gehörte mitunter zu den Aufgaben des Sanitätsdienstes. Ein Widerspruch am Rande: Der Sanitätsdienst erfüllte nach der Gesetzgebung der französischen Zivilverwaltung die Aufgaben eines Zuhälters, entsprechende Tätigkeiten wurden ansonsten folgendermaßen geahndet: "Zuhälter werden grundsätzlich in das Polizeihaftlager Compiegne verbracht und sollten dort nach Möglichkeit zur Zwangsarbeit nach dem Osten verschickt werden."

Unkontrollierte Kontakte zwischen Angehörigen der Wehrmacht und weiblicher Zivilbevölkerung sollten ausgeschlossen werden, deshalb erfolgten alltäglich Razzien an entsprechenden Orten des möglichen Kontaktes. Die Konsequenzen dieser Reglementierung hatten ausschließlich die Frauen zu tragen. Französische Frauen wurden aufgegriffen, kontrolliert und zwangsgynäkologisch untersucht. Im Falle einer nachgewiesenen Erkrankung wurden die Frauen zwangshospitalisiert, ab 1941 drohte die Einweisung in ein Lager. Trotz dieser rigiden Maßnahmen gegen Prostituierte oder vermeintlich Prostituierte, trotz der Zwänge bei der Anwerbung der Frauen als Prostituierte ordnet Meinen das Bordellsystem der Wehrmacht nicht in den Bereich der Zwangsprostitution ein. Meinen führt an, dass die Wehrmacht während des zweiten Weltkrieges in Ost- und Südeuropa Frauen gegen ihren Willen und unter Anwendung oder Androhung von Gewalt in Bordelle zwang, sie bezeichnet dieses Vorgehen als "organisierte Vergewaltigung unter Terrorbedingungen". Dies sei allerdings nicht vergleichbar mit der Situation im besetzten Frankreich. Hier seien die Frauen nicht von der Wehrmacht verfolgt worden, um sie in die Prostitution zu zwingen, es seien lediglich die Frauen verfolgt worden, die gegen den Willen der Wehrmacht (und auch der französischen Zivilbehörden) unreglementiert Kontakte zu deutschen Soldaten aufnahmen. Es mag richtig zu sein, nicht von Zwangsprostitution in diesem Sinne zu sprechen, allerdings kann und sollte diese Form der Reglementierung der Geschlechterbeziehungen in den Bereich der sexualisierten Gewalt eingeordnet werden. Meinen zitiert Berichte von Frauen, die als Prostituierte erfasst wurden und denen nach dem Verstoß gegen dieses Reglementierungssystem die angebliche Wahl gelassen wurde zwischen der Einweisung in ein Internierungslager mit den damit verbundenen Konsequenzen oder der Aufnahme einer Tätigkeit als Prostituierte im Wehrmachtsbordell, eindeutig eine Zwangssituation im Kontext sexualisierter Gewalt.

Meinens Studie regt zu neuen Fragestellungen an: Es wäre aufschlussreich, genauer zu untersuchen, welche Frauen konkret von dieser Reglementierung betroffen wurden, ob generell alle Frauen unter Prostitutionsverdacht gestellt, somit diffamiert und Zwangsmaßnahmen unterworfen werden konnten. In diesem Zusammenhang wären die Berichte und Aussagen französischer Frauen besonders aufschlussreich, aufgrund der Brisanz des Themas in bezug auf die Geschlechterpolitik und auf die widersprüchliche Haltung gegenüber der Besatzungsmacht sicherlich immer noch ein Tabuthema. Selbst in der Aufarbeitung der Geschichte der Résistance wird deutlich, dass selbst widerständig motivierte Kontakte zu Angehörigen der Wehrmacht mit Ressentiments und eventuell Missachtung der Frauen betrachtet werden. Zudem wäre interessant zu untersuchen, welche Auswirkungen diese rigide Reglementierung des Geschlechterverhältnisses auf nur im Bordell erlaubte sexuelle Kontakte auf das Geschlechterverhältnis sowohl in den besetzen Gebieten als auch in Deutschland selbst hatte.

Meinen bietet mit ihrer Studie eine bisher einzigartige und aufschlussreiche Analyse des Bordellsystems der Wehrmacht im besetzten Frankreich. Es ist offensichtlich notwendig, zwischen unterschiedlichen Gewalt- und Zwangmaßnahmen im Zusammenhang mit Militär und Prostitution und sexualisierter Gewalt zu unterscheiden. Ihre Studie kann und sollte als Grundlage und Anregung verstanden werden, dieses Thema weiterhin im Zusammenhang mit der Geschlechterfrage im Kriegsalltag zu bearbeiten.

Raphaela Kula, Bielefeld


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