ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Zu den bevorzugten Gegenständen der historischen Parlamentarismusforschung zählen die Wahlen, die nach einer bekannten Formulierung Theodor Schieders an der Nahtstelle zwischen gesellschaftlichem und staatlichem Leben angesiedelt sind. Insbesondere das Kaiserreich, das von dem Widerspruch zwischen dem allgemeinen Wahlrecht für Männer auf der nationalen Ebene und einem vordemokratischen Dreiklassenwahlrecht in Preußen oder Sachsen geprägt war, scheint dabei das Interesse der Historiker zu fesseln. Mit Arbeiten zu dieser Epoche vollzog die historische Wahlforschung die Öffnung hin zu einer "Kulturgeschichte" des Wählens und fand den Anschluss an jüngere historiografische Entwicklungen – erwähnt seien nur die Untersuchungen von Thomas Kühne und Margaret L. Anderson.[1]
Im folgenden werden jedoch einige Bücher vorgestellt, die einer "klassischen" Frage der Wahlforschung verpflichtet sind, nämlich derjenigen nach der politischen, sozialen und konfessionellen Gliederung der Wählergruppen der einzelnen Parteien.

Da für das Kaiserreich entsprechende Umfragedaten nicht zur Verfügung stehen, sind die Historiker auf komplizierte mathematische Verfahren angewiesen. Mit den Untersuchungen von Jürgen Winkler und Jonathan Sperber liegen gleich zwei neue Arbeiten vor, die mittels der "multivariaten Regressionsanalyse" die in den meist amtlichen Statistiken überlieferten Daten bearbeitet haben. Während das Feld der empirischen Untersuchung bei Sperber ganz und bei Winkler überwiegend auf das Kaiserreich (namentlich die 1870er Jahre) beschränkt bleibt, so versuchen doch beide Autoren, Kontinuitätslinien bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein zu ziehen, wobei die Frage nach der Wählerschaft und dem Charakter der NSDAP im Vordergrund steht. Im Folgenden interessieren jedoch vor allem die auf das Kaiserreich bezogenen Ergebnisse.

Im Zentrum der zahlen- und tabellenreichen Untersuchung Winklers steht die Analyse der langfristigen Wählermobilisierung des politischen Liberalismus seit 1871, die "in Abhängigkeit von sozialstrukturellen, regionalen und politischen Faktoren" beschrieben wird. In seiner gegen die Milieu-Theorie gewendeten Argumentation zeigt er, dass vor allem die Wählerschaft des Liberalismus trotz in der Summe etwa gleich bleibender Stärke lokal und regional erheblichen Schwankungen unterworfen war. Dieser Befund wird dadurch erläutert, dass die liberale Wählerschaft – im Gegensatz zum Zentrum und zu den Sozialdemokraten, aber ähnlich den Konservativen – sozialstrukturell nicht fest verankert gewesen sei. Winkler betont, dass es insbesondere in den beiden ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs große Wanderungen zwischen den politischen Hauptgruppen gegeben habe, dass diese somit ohne einen festen Wählerstamm in das Kaiserreich eingetreten seien. Unter den Bedingungen, die eine Wahlentscheidung für liberale Parteien begünstigten, nennt Winkler vor allem die folgenden: erstens den regionalen Faktor, d.h. die jeweilige politische Wählertradition, sowie – unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts in Einmannwahlkreisen – das Vorhandensein oder Fehlen konservativer Konkurrenten, zweitens den konfessionellen Faktor, d. h. das Überwiegen protestantischer Bevölkerungsschichten. Demgegenüber seien sozialökonomische Faktoren für den politischen Liberalismus zunächst nur von geringer Bedeutung gewesen; ihr Gewicht sei erst im Verlauf der Weimarer Republik kontinuierlich angewachsen. Winkler betont die vergleichsweise starke Diskontinuität innerhalb der liberalen Wählerschaft bereits im Kaiserreich. Den Fluchtpunkt seiner Argumentation bildet die Zurückweisung der These vom "radikalisierten Mittelstand", wonach die NSDAP "nahtlos" an die liberale Wählertradition des Kaiserreichs angeknüpft habe.

Quantitative Untersuchungen über das Wählerverhalten sind ein wichtiger Faktor für die Analyse von Wahlvorgängen und Parteiensystemen, durch den viele umstrittene Probleme außer Zweifel gestellt werden können. In dieser Hinsicht bringt die Untersuchung Winklers zweifellos Fortschritte. Winkler ist jedoch von den Vorzügen seiner Methode so sehr überzeugt, dass er weitgehend darauf verzichtet, seine Ergebnisse mit den Resultaten anderer Zweige der relevanten Forschung – etwa mit denen der historischen Parteienforschung oder der hermeneutisch orientierten Wahlkulturforschung – in Beziehung zu setzen. Solche Verknüpfungen zählen zu den Stärken der Arbeit Sperbers, der nicht nur die Grenzen seiner Untersuchungsmethode ständig mitreflektiert, sondern die Ergebnisse seiner quantitativen Analysen mit den Forschungsdebatten über das politische System des Kaiserreichs in Verbindung zu bringen sucht. Dass ihm einige leicht vermeidbare faktische Fehler etwa in bezug auf die Stellung des Reichstags im Verfassungssystem des Kaiserreichs unterlaufen[2], tut den zahlreichen interessanten Aspekten der Untersuchung keinen Abbruch. Seine Arbeit zerfällt in zwei Teile: in einem ersten Abschnitt wird mittels Längsschnittanalysen die Wählerbasis der einzelnen Parteien untersucht; in einem zweiten Abschnitt werden die Ergebnisse der einzelnen Wahlen in chronologischer Reihenfolge analysiert. Aus pragmatischen Gründen hat sich Sperber dafür entschieden, die Vielzahl der Parteien – entsprechend der Lager-Theorie von Karl Rohe – in drei Gruppen zusammenzufassen, wobei die Sozialdemokraten die erste bilden, die "Minoritätenparteien" (Zentrum, nationale Minderheiten) die zweite, und die "nationalen" Parteien (konservative und liberale) die dritte.

Die SPD, so zeigt Sperber, erhielt ihren Zuwachs bis 1887 überwiegend aus dem Kreis der Nichtwähler, danach gewann sie jedoch zusätzliche Stimmen in erster Linie von anderen Parteien, insbesondere den Liberalen, sowie von Erstwählern und Zuwanderern. Der wichtigste einzelne Faktor, der eine Wahlentscheidung für die SPD begünstigte, war der Beruf (gemeint ist, dass SPD-Wähler fast nie im agrarischen Sektor beschäftigt waren), gefolgt von der Konfession (protestantisch), deren Bedeutung allerdings nach 1900 beständig abnahm. Die geringste Rolle spielte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse (hier widerspricht Sperber Winkler, der der SPD eine "eindeutig sozialökonomisch definierte Verankerung" zuerkennt). Nach 1900 wurde die SPD, so Sperber, eine Partei, die gleichgewichtig von protestantischen Arbeitern und protestantischen städtischen Mittelschichten gewählt wurde. In der Tendenz nähert sich Sperber damit den Ergebnissen von Christoph Nonn, wonach die SPD als Vertreterin der städtischen Verbraucherinteressen allmählich Züge einer "Volkspartei" angenommen habe.[3]

Auch in bezug auf die "Minoritätenparteien" war die Stabilität des Wählerverhaltens nur oberflächlich, es handelte sich vielmehr um eine "dynamische Stabilität". Mit diesem Begriff trägt Sperber dem Faktum Rechnung, dass sich die absoluten Wählerzahlen zwar nicht wesentlich verändert haben, die Wählerschaft jedoch von Wahl zu Wahl zum Teil verschieden zusammengesetzt sein konnte: zwar wechselten sie selten die Partei, aber die Wahlbeteiligung schwankte stark nach Region und Wahlkampfthema. Auch als sich mit dem Ende der Bismarckzeit und der mit ihr verbundenen Repressionen die Wählerloyalität verringerte und das Zentrum neue Formen der Wählermobilisierung und -integration erprobte, blieben konfessionelle Bande die wichtigsten Faktoren bei der Wahlentscheidung für diese Partei. Diejenigen katholischen Wähler, die zu anderen Parteien wechselten, konnte das Zentrum durch die Gewinnung von Neuwählern ersetzen.

Auf den allmählichen Übergang zur Massenpolitik und den Vorrang ökonomischer Interessen und nationalistischer Agitation haben, so Sperber, die Konservativen schneller reagiert und deshalb weniger Verluste erlitten als die Liberalen. Aber auch letztere hätten mit zeitlicher Verzögerung neue Wählerschichten hinzugewonnen, vor allem aus der Arbeiterklasse. Überraschend, wenn auch nicht ganz neu, ist das Faktum, dass die Nationalliberale Partei die einzige war, die seit den 1890er Jahren auf eine ausgeglichene konfessionelle Struktur zusteuerte. In bezug auf die "nationalen Parteien" plädiert Sperber für eine zurückhaltende Verwendung des Lagerbegriffs. Dieser sei vor allem für die 1870er Jahre plausibel, eventuell für die "Hottentotten-Wahlen" von 1907. Der nationale Wählerblock, so betont er, war aufs Ganze gesehen nicht so fest gefügt, wie er unter den spezifischen Bedingungen etwa des Ruhrgebiets oder – wie neuerdings gezeigt – Sachsens erscheinen mochte.

In der Entwicklung des Wählerverhaltens verzeichnet Sperber in den 1890er Jahren einen tiefen Einschnitt. Nicht nur die Milieugrenzen brachen allmählich auf, auch die Rekrutierung von Nicht- und Erstwählern verlor an Bedeutung für den Wahlausgang. Über Erfolg und Misserfolg entschied nunmehr in erster Linie der "switch" der Wechselwähler, der von Wahl zu Wahl erhebliche Abweichungen bewirken konnte. Dabei gelingt es Sperber, ein typisches Muster herauszuarbeiten: wenn die Regierung durch nationalistische Kampagnen neue Wählerschichten mobilisierte und auf diese Weise zum Wahlsieg der rechten Parteien beitrug (so vor allem 1878, 1887 und 1907), dann wechselten bei der folgenden Wahl viele der mobilisierten Wähler zu den Linksparteien und verhalfen diesen zum Sieg (so 1881, 1890 und 1912).

Sowohl Winkler wie Sperber wenden sich gegen die Vorstellung von der Existenz fester sozialmoralischer Milieus innerhalb der Wählerschaft. Während Winkler vor allem gegen die These vom "radikalisierten Mittelstand" argumentiert, geht Sperber einen Schritt weiter. Er vertritt entschieden die Ansicht, dass es an der Zeit sei, "to say farewell to the milieu thesis". Auch wenn dieses Urteil übertrieben erscheint, so wird man angesichts der Befunde beider Arbeiten feststellen müssen, dass nicht die gesamte Gesellschaft dauerhaft durch "Milieus" erfasst wurde. Neben oder zwischen den Milieus existierte eine überraschend große und stets wachsende Zahl von Wechselwählern, die die politische Landschaft des Kaiserreichs viel bewegter erscheinen lassen, als es die (vergröberte) Milieu-These suggeriert.

Tendenzanalysen neigen notwendigerweise dazu, die jeweiligen taktischen und situationsbedingten Faktoren politischer Wahlen zu unterschätzen. Diese Nachteile lassen sich durch den methodischen Zugang vermeiden, den Brett Fairbairn gewählt hat. In seiner aus einer Dissertation von 1987 hervorgegangenen Studie beschränkt er sich auf zwei Reichstagswahlen, nämlich denjenigen von 1898 und von 1903. Seine Auswahl begründet er damit, dass die Zeit um die Jahrhundertwende den Durchbruch von der traditionellen Honoratiorenpolitik zur populistischen Massenpolitik markiere. Gleichzeitig sei die Zeit der nationalpolitischen Konfrontation zwischen Protestanten und Katholiken bzw. Nationalen und Reichsfeinden, die die Bismarck-Ära geprägt hatte, zu Ende gegangen und die ökonomische und soziale Interessenpolitik in den Vordergrund getreten. Sein Hauptinteresse gilt der Frage, wie "modern" bzw. demokratisch die politische Kultur des Kaiserreichs gewesen ist. Die Studie ist im Zusammenhang mit den Diskussionen entstanden, die durch die Arbeiten von David Blackbourn und Geoff Eley sowie durch die Wahlanalysen von Stanley Suval ausgelöst wurden.

Hinsichtlich der Inhalte der Wahlkämpfe unterscheidet er zwischen solchen, in denen "national issues" im Mittelpunkt standen (1878, 1887, 1893, 1907), und Wahlkämpfen, in denen "fairness issues" die Debatte bestimmten. Die von ihm näher untersuchten Wahlen fallen in letztere Kategorie. Im Mittelpunkt der Wahlauseinandersetzungen stand die Erhöhung der Zolltarife auf industrielle und agrarische Produkte. Aus der Sicht der "staatstragenden Kräfte" sollte der Schutzzoll eigentlich der Boden sein, auf dem sich die konservativen und nationalliberalen Parteien und Fraktionen vereinigten. In Wirklichkeit erwies sich die agrarische Protektionspolitik jedoch als größtes Hindernis der "Sammlungspolitik". Sie legte die Interessengegensätze zwischen Produzenten und Konsumenten, zwischen Land und Stadt, bloß, insbesondere in der nationalliberalen Wählerschaft. Fairbairn gelingt es auch, die These vom "Sozialimperialismus" aus wahlhistorischer Sicht zu widerlegen. Im Wahlkampf spielten Flotte und Militär kaum eine Rolle. Die nationalliberale Partei, die im Jahr des ersten Flottengesetzes ihre Wahlkampagne auf nationale Agitation und die Flotte aufbaute, fuhr eines ihrer schlechtesten Ergebnisse ein. Angesichts der unübersichtlichen Lage hielten sich die staatlichen Stellen bei der Unterstützung nationalistischer Kampagnen weitgehend zurück. Sie hatten keine Kontrolle über den Verlauf der Wahlen, von einer erfolgreichen Manipulation konnte keine Rede sein.

Die besten Ergebnisse erzielten diejenigen Parteien, die sich die Verteidigung der städtischen Verbraucherinteressen zu eigen machten, an erster Stelle die Sozialdemokratie. Neben dem Kampf gegen die agrarischen Schutzzölle machte sie die Verteidigung und Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts zum zweiten Gegenstand ihrer Kampagnen. Weniger entschieden in ihren Kampagnen, aber in der Tendenz ähnlich, setzte sich auch die Zentrumspartei für das allgemeine Wahlrecht ein. Daneben vertrat sie – nach dem Ende des "Kulturkampfes" – die Forderung nach konfessioneller Parität auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens. Auch für die Zentrumspartei zahlte sich die Konzentration auf "fairness issues" aus. Sie ging gestärkt aus den Wahlen hervor.

Insgesamt gelangt Fairbairn zu einer ausgesprochen positiven Einschätzung der politischen Kultur des Kaiserreichs. Das allgemeine Wahlrecht habe erhebliche Mobilisierungseffekte besessen und dazu geführt, dass die Regierung ihre Politik zusehends an den Erwartungen der Mehrheit orientieren musste. Die Wähler hätten das Wahlrecht bewusst eingesetzt, um ihre politischen und sozialen Interessen zu verfolgen. Auch das Eingreifen der Interessen und Interessenverbände führte nach Fairbairn nicht zu einer schädlichen Zerplitterung der Wählerschaft. Die schon zeitgenössischen Klagen über den Zerfall der Wählerschaft in Interessengruppen habe im wesentlichen die Sichtweise der Liberalen reflektiert, deren nationale Integrationsstrategien sich als wirkungslos erwiesen hätten. Das eigentliche Problem habe in der Weigerung wichtiger Teile der politischen Eliten bestanden, die demokratischen Spielregeln zu akzeptieren. Besonders sichtbar wurde dies in der strikten Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie, zu der auch die Linksliberalen übergingen. "The flaw in German society lay less at the bottom than at the top."

Das insgesamt optimistische Urteil über "the flourishing mass-political culture" verdankt sich nicht zuletzt der methodischen Prämisse, dass sich Fairbairn auf die nationale Ebene konzentriert, die durch das zweifellos moderne Wahlrecht geprägt wurde. Die Sachlage stellt sich wesentlich ungünstiger dar, wenn man den Blick auf einzelstaatliche oder kommunale Wahlen richtet. Von einer demokratischen Wahlkultur kann dort kaum die Rede sein. Das gilt nicht nur für das vergleichsweise gut untersuchte Preußen, wo unter dem Dreiklassenwahlrecht eine auf Konfliktvermeidung und Honoratiorentum ausgerichtete Wahlkultur fortdauerte, sondern auch für Sachsen, wo mehrfach das Landtagswahlrecht mit dem Ziel geändert wurde, den sozialdemokratischen Einfluss zu begrenzen (1896 und 1909). [4]
Bei allen berechtigten Hinweisen auf eine konfliktorientierte und "moderne" Wahlkultur im Reich gilt es darauf zu achten, dass der Überdruss an der intellektuell erledigten Sonderwegsthese nicht zu einer Überschätzung der "demokratischen" Elemente des Kaiserreichs führt – eine Tendenz, die nicht nur bei der historischen Wahlforschung gelegentlich erkennbar wird.

Andreas Biefang, Bonn