ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christine Stangl, Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. Herrschaftsverständnis und Herrscherbild der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1875 (= Historische Forschungen, Band 74), Duncker & Humblot, Berlin 2002, 424 S., brosch., 78 EUR.

Die Autorin greift ein Thema auf, das in der Auseinandersetzung vor allem mit marxistischen Theorien gelegentlich vernachlässigt wurde – die Frage nach einer erstrebenswerten und in Verbindung mit einer sozialistischen Wirtschaft sinnvollen Staats- und Regierungsform. Zu sehr standen ökonomische Fragen, die Verfügungsgewalt über Eigentum und Ressourcen, die Organisation der Arbeit, die Verteilung der Gewinne, Nießbrauch des gesellschaftlichen Reichtums usw. im Vordergrund, als dass die Frage nach der Staats- und Regierungsform, der Gewaltenteilung, der Kontrolle von Amt und Macht eine angemessene Rolle gespielt hätte. Dies wird erkennbar an dem Paradox, dass kommunistische Staaten, nach deren ideologischer Aussage der Staat einmal "absterben" oder zum bloßen Verwaltungsorgan mutieren würde, letztlich an einem Übermaß an bürokratischer Herrschaft, gesellschaftlicher Kontrolle und Reglementierung zugrunde gingen.

Der zeitliche Rahmen der Studie liegt – neben einem Blick auf frühe Utopisten (Thomas Morus, Rousseau) und revolutionäre französische Vorläufer (Proudhon, Blanqui, Fourier, Cabet, Babeuf usw.) – zwischen den Frühsozialisten im Vormärz und der sich 1875 in Gotha konstituierenden Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Im wesentlichen richtet die Autorin ihre Fragen an die Schriften von Wilhelm Weitling, Moses Heß, Marx und Engels, Johann Philipp Becker, Lassalle und seine Anhänger, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, deren Rolle sie in einer Übersicht über die Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Vorläufer bis zur Entstehung der deutschen Sozialdemokratie verortet. Hierbei zeigt sie klar, dass in einigen frühsozialistischen Schriften – etwa Weitlings oder Moses Heß’ – Fragen nach Verfassung, Gewaltenteilung und Partizipation des Volkes durchaus eine wichtige Rolle spielten. Dies gilt auch für Lassalle, für den der Staat stets eine zentrale Größe bei der Durchsetzung gesellschaftlicher Veränderung darstellte.

Politische Zukunftsvorstellungen können sich auch in besonderen Ausdrucksformen der Arbeiterkultur manifestieren. Ein Kapitel widmet die Autorin dem Bild des Herrschers in der Arbeiterkultur, angefangen mit Liedern und Gedichten von Georg Herwegh und Heinrich Heine bis hin zu Theaterstücken (z.B. Lassalles "Franz von Sickingen") und Festveranstaltungen. Sie konnten eine mobilisierende Wirkung haben, sozialistisches Gedankengut verbreiten und in mentale Strukturen umsetzen. Gedichte über Lassalle, Marx und Engels, Liebknecht und Bebel zeigten aber auch, dass hier die Grenzen zum Kitsch und zum Personenkult leicht überschritten wurden.

In einem Fazit lässt die Autorin eine Typologie der Herrschaftsformen Revue passieren, die jeweils von Strömungen und Einzelvertretern der Arbeiterbewegung entwickelt worden sind. Sie reichten von einer "geregelten Anarchie" über Mischformen von direkter und repräsentativer Demokratie, Elitenherrschaft, "soziales Königtum" bis zur (vorübergehenden) Diktatur einer Gruppe oder einer Person. Im wesentlichen ordnet die Autorin diese Vielfalt zwei Entwicklungssträngen zu – einer gemischt direktdemokratisch-repräsentativen Form und einer diktatorischen. Aus der einen ging, so darf man dies wohl etwas vergröbernd interpretieren, die Tradition einer konstitutionell und rechtsstaatlich orientierten sozialen Demokratie hervor, aus der anderen die Konzeption einer autoritären Herrschaftsform, in der der Arbeiter nominell der Souverän war, aber unter der straffen Führung einer berufsmäßigen (Partei-)Elite nicht oder allenfalls als Objekt von Entscheidungen beteiligt war. Obwohl der zeitliche Rahmen die Spaltung der Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vollends nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr berücksichtigt, lassen sich die unterschiedlichen Wurzeln von Sozialdemokratie einerseits und kommunistischer Herrschaft sich bereits sehr weit zurückverfolgen.

Dass ein Teil der Arbeiterbewegung die spätere Entwicklung zu einer (Partei-)Diktatur einschlug, lag nicht zuletzt daran, dass Marx und Engels nur wenige Äußerungen über künftige Regierungsformen hinterlassen hatten. Betrachtungen über die Revolution, über die Pariser Kommune und andere mehr beiläufige Äußerungen ließen offen, was man sich unter der von ihnen propagierten "Diktatur des Proletariats" jemals vorstellen könne. In dieses Interpretationsvakuum konnte dann später Lenins extrem zentralistische und autoritäre Konzeption einer Elitendiktatur eindringen, die unter Stalin und anderen roten Potentaten ihre grausigen Auswüchse entwickelte. Dadurch, dass Marx und Engels und in ihrem Gefolge andere Theoretiker fast ausschließlich ökonomische Fragen in den Vordergrund rückten, wurden Fragen, wie sie Frühsozialisten wie Moses Heß oder auch Anarchisten stellten, weitgehend ausgeklammert: das Problem des Machtmissbrauchs, die Entstehung neuer Klassen, die Verselbständigung einer (auch materiell) privilegierten Bürokratie, deren Existenz – wie wir heute wissen – parasitäre Züge trug.

Das Spektrum dieser äußerst anregenden, gut geschriebenen und informativen Studie endet zwar mit dem Jahr 1875, man spürt aber, dass die Autorin spätere Entwicklungen im Blick behält. Die Frage nach dem Staats- und Herrschaftsverständnis der frühen Arbeiterbewegung regt an, die gezeichneten Entwicklungslinien in einer weiterführenden Untersuchung fortzusetzen. In gewisser Weise mag man bedauern, dass die Studie einige Jahrzehnte zu spät erschienen ist, weil sie nicht mehr mit den inzwischen verstummten oder ausgestorbenen Verfechtern des Realsozialismus konfrontiert werden kann. Denn die zentralen Fragen der Staats- und Regierungsform, der Machtkontrolle und der Bedeutung des (formalen) Rechts, der Behandlung von Dissidenten und der Eigeninitiative der Bürger stellten die Schwachstellen kommunistischer Staaten dar und gingen zu einem großen Teil auf die unklaren und unausgereiften Staatsvorstellungen von Marxisten zurück, die sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.

Patrik von zur Mühlen, Bonn


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