ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918) (= Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Band 102), Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 1997, 470 S., Ln., 74 EUR.

Der Geschichtswissenschaft des Kaiserreichs galten politische Parteien, Wahlen und Parlamente kaum als untersuchungswürdige Gegenstände. Erst in den letzten Vorkriegsjahren setzte eine Hinwendung von Teilen der historischen Forschung zum Thema des Parlamentarismus ein, das aber selbst während der Jahre der Weimarer Republik eher von Außenseitern der überwiegend republikskeptischen oder gar -feindlichen "Zunft" bearbeitet wurde. Die Ursachen für das späte Interesse am Phänomen des Parlamentarismus sind bislang noch nicht ausreichend untersucht worden; auch fehlt eine umfassende, systematisierende Bestandsaufnahme des Ertrags der frühen Forschungen.

Um so begrüßenswerter ist es, dass nunmehr in bezug auf die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs eine gründliche, auf breiter Auswertung des einschlägigen Schrifttums beruhende Darstellung vorliegt. In seiner Untersuchung über das "Parlament im Anstaltsstaat" zeichnet Christoph Schönberger die Entwicklung des staatsrechtlichen Denkens über den Parlamentarismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach. Sein Hauptinteresse gilt dabei dem Aufkommen des staatsrechtlichen Positivismus, dessen Aufschwung um die Jahrhundertmitte begann. Er trat an die Stelle der vormärzlichen Lehre, nach der die Kammern dem Monarchen als "Untertanenrepräsentation" lediglich gegenüberstanden, wobei letzterer aber gemäß dem monarchischen Prinzip allein den Staat und damit den Willen der Allgemeinheit verkörperte.

Durch den staatsrechtlichen Positivismus erfuhren die Kammern zunächst eine deutliche formale Aufwertung. In der von Carl Friedrich Gerber begründeten und von Paul Laband mit Blick auf den Reichstag konkretisierten Lehre wurde das Parlament in den Status eines Staatsorgans erhoben. Ungeachtet dieser nominellen Aufwertung verharrten jedoch auch die Vertreter des staatsrechtlichen Positivismus bei der Auffassung, dass die Einheit des Staates – gedacht als die Einheit des staatlichen Willens – allein durch den monarchisch-bürokratischen Apparat repräsentiert werde. In der Theorie wirkte das Parlament als "unselbständiges Staatsorgan" durch seine Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren lediglich vorbereitend auf das staatliche Handeln ein. Zugleich verlor das Parlament jedoch durch die Auszeichnung mit staatlichen Weihen die Qualität eines "Volksorgans", das der Exekutive unter Verweis auf seine unmittelbare Stellvertreterfunktion entgegentreten konnte. Im Gegensatz zu der etwa von Ernst Rudolf Huber vertretenen Auffassung, so zeigt Schönberger, versuchte die positivistische Staatsrechtslehre somit gerade nicht, den für den deutschen Konstitutionalismus charakteristischen Konflikt zwischen dem monarchischen Prinzip und der Volkssouveränität zu neutralisieren, sondern löste ihn einseitig zugunsten der Vorrangstellung der Monarchie auf.

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts geriet die positivistische Lehre in die Kritik sowohl konservativer wie liberaler Autoren. Während die Mehrzahl der konservativ-monarchischen Autoren kurzerhand auf die Lehre von der Untertanenrepräsentation zurückgriff, deutete sich in der Staatslehre Georg Jellineks durch eine stärkere Berücksichtigung des "Volkes" bereits die Möglichkeit eines plebiszitären, gegen das Parlament gerichteten Zusammenspiels von Bevölkerung und Staatsführung an. Auf liberaler Seite führte man dagegen ein genossenschaftliches Modell ins Feld, in dem das Parlament zum Ausdruck gesellschaftlicher Selbstregierung wurde (Otto Gierke, Hugo Preuß). In der dieser Theorie zugrunde liegenden Auffassung einer tendenziellen Identität von Volk und Volksvertretung sieht Schönberger ein Weiterwirken des im vormärzlichen Dualismus wurzelnden "Oppositionsrousseauismus", der auch den republiktreuen Staatsrechtlern das Verständnis der Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems erschwert habe. Nach Auffassung Schönbergers haben diese spezifisch deutschen Ausprägungen der Staatsrechtslehre – die er durch den vergleichenden Blick auf die französischen Staatsrechtsdiskussion scharf konturiert – nicht nur das Normensystem der Weimarer Verfassung beeinflusst, sondern auch eine erhebliche Belastung für die Weimarer Demokratie dargestellt.

So überzeugend und elegant Schönberger das Denken der Elite der deutschen Staatsrechtler analysiert, neigt er gelegentlich dazu, die realhistorische Entwicklung des Parlamentarismus zu kritisch, weil zu sehr aus der Perspektive der zeitgenössischen juristischen Theorie, zu beurteilen. Denn ungeachtet der geringen Wertschätzung, die der Reichstag in der Rechtswissenschaft (und in der Historiographie) erfuhr, gewann die nationaldemokratisch legitimierte Volksvertretung in der politischen Praxis seit 1871 zunehmend an Gewicht, nicht zuletzt deshalb, weil teure Rüstungsprojekte und der aufkommende Interventionsstaat die Exekutive zu einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit dem Parlament zwangen. Als ideengeschichtliche Analyse einer politisch relevanten intellektuellen Elite ist das Buch Schönbergers jedoch kaum zu übertreffen.

Andreas Biefang, Bonn


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