ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Reinhard Mocek, Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung (= Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, Studien und Quellen, Band 51), Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main 2002, 523 S., brosch., 70,60 EUR.

Wie bereits im Titel seines Buches anklingt, macht sich Reinhard Mocek in seiner Untersuchung zunächst auf die Suche nach den ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Haltung der Arbeiterbewegung zum Themenkomplex Eugenik beziehungsweise zu dem im deutschen Sprachraum verbreiteten Begriff Rassenhygiene. Anschließend diskutiert er die inhaltliche Entwicklung dieser Bezugnahme. Der von ihm bearbeitete Zeitrahmen erstreckt sich von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Seine Arbeit gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil nimmt er eine genaue begriffliche Klärung seines Untersuchungsgegenstandes vor. Den dritten Teil bildet eine kurze Auseinandersetzung mit der aktuellen Debatte zu Reproduktionsbiologie und Genetik unter Rückgriff auf die rassenhygienischen Vorstellungen der Arbeiterbewegung bis zum Ende der Weimarer Republik. Den eigentlichen Schwerpunkt bildet jedoch der zweite Teil. In diesem diskutiert er ausführlich die Berücksichtigung biologischen Denkens durch die verschiedenen sozialistischen Strömungen und arbeitet verschiedene Entwicklungslinien heraus. In seine Analyse integriert er dabei die Anlehnung der Arbeiterbewegung an die Naturrechtsphilosophie der französischen Aufklärung ebenso wie die Dienstbarmachung naturkundlicher und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bis hin zum Darwinismus. Diese auf einen Naturbegriff fokussierten Lehren seien als Gegenbild zu den sozialen Ungerechtigkeiten der Welt entworfen und politisch ins Feld geführt worden. Mocek spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich die frühe Arbeiterbewegung ihrer Ziele auf sozialphilosophischer und gleichzeitig auf biologistischer Weise selbst vergewissert habe. Er bezeichnet diese Haltung als "proletarische[n] Biologismus" oder auch als "proletarische Befreiungsbiologie" (S. 75). Gemäß seiner ideengeschichtlichen Orientierung stehen bei Mocek Autoren und deren Sozialphilosophien im Vordergrund. Politisches Handeln wird von ihm weitgehend ausgeklammert.

Die historische Entwicklung der Beziehung der Arbeiterbewegung zu Fragen der Biologie und anderer Naturwissenschaften teilt Mocek in drei Etappen ein. Die erste Etappe, die Herausbildung des proletarischen Biologismus, setzte unmittelbar mit der Entstehung des französischen Frühkommunismus, der geheimen Bünde und des utopischen Sozialismus ein, so der Autor. Ihren zugespitzten Ausdruck habe diese Etappe im Phrenomesmerismus gefunden, der auf die Ärzte Franz Anton Mesmer und Joseph Gall zurückging. Diese Lehre beförderte laut Mocek die Überzeugung, dass Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit in höheren Prinzipien verankert seien und nicht nur den Nöten der Armen entsprangen. Der Beginn der zweiten Etappe sei durch die Auseinandersetzung von Marx mit Darwin markiert worden. Mocek erläutert, dass es in diesem Abschnitt in erster Linie um die Verknüpfung der materialistischen Geschichtsauffassung mit den modernen, darwinistisch geprägten Wissenschaften ging. Die Auseinandersetzung um die Relation zwischen den die Menschen prägenden Umständen und ihren erblichen Anlagen habe sich mit Resultaten frühgeschichtlicher und anthropologischer Forschung verbunden. Als wichtige Akteure dieser Debatte nennt er vor allem Engels, Bebel und Kautsky, die jeweils unterschiedliche Akzente gesetzt hätten. So hätte Engels durch seinen Hinweis auf einen gesellschaftlichen Trieb des Menschen bereits angedeutet, dass man das menschliche Wesen nicht nur idealistisch betrachten könne. Bebel habe nachfolgend systematisch naturwissenschaftliches Denken und die materialistische Geschichtsauffassung miteinander integriert und die theoretische Wende von einer Übertragung der darwinistischen Zuchtwahl auf die Gesellschaft zum Neolamarckismus vollzogen. Die verschiedenen Schriften von Kautzky bilden laut Mocek hingegen den Übergang zur dritten Etappe. Dabei hätte sich eine "kopernikanische Wende" (S. 219) der Diskussion in der Arbeiterbewegung abgezeichnet. Bürgerliches Denken habe zunehmend an Einfluss gewonnen; an die Stelle der Wiederherstellung der natürlichen Rechte der Menschen sei nun die Neugestaltung der menschlichen Existenz getreten. Dass sich Kautzky an Fragen wie Entartung und Überbevölkerung wagte, habe dabei zur Herausbildung einer reformistischen Sozialpolitik beigetragen.

Als dritte Etappe bezeichnet Mocek die Herausbildung einer proletarischen Rassenhygiene als einem eigenständigen Anliegen der Arbeiterbewegung. Diese sei von nationalsozialistischer Rassenhygiene dadurch zu scheiden, dass sie keinen rassistischen Vorstellungen entsprang, sondern sich an medizinischen Kriterien und an durch die sozialen Umstände hervorgerufenen hygienischen Missständen orientierte. Zu ihren Vertretern zählt Mocek in erster Linie Oda Olberg. Er führt jedoch auch beispielsweise Rudolf Goldscheid, Henriette Fürth und August Forel an. Insbesondere in Olbergs Schriften spiegele sich der Durchbruch und schließlich das Scheitern der proletarischen Rassenhygiene wider. Ausgehend von einem empirisch fundierten Milieubegriff sei sie von der Idee der Keimschädigung durch missliche Umstände gefangen gewesen. Ihr Kulturpessimismus habe sie eine rassenhygienische Position einnehmen lassen, die viele ihrer Beobachtungen und klugen Bemerkungen entwertet habe. Sie habe sich immer mehr von ihren früheren Positionen entfernt, welche schließlich kaum noch erkennbar gewesen seien. Durch Alfred Grotjahn sei letztlich der Übergang zu einer sozialistischen Eugenik gegeben gewesen, die sich nicht mehr in Einklang mit den Intentionen der proletarischen Rassenhygiene bringen ließ und sich immer mehr an der nicht-proletarischen Rassenhygiene orientierte. Mocek argumentiert, dass sich diese Tendenz insgesamt in der Sozialdemokratie der Weimarer Republik zeigte. So habe das Augenmerk nicht mehr dem Proletariat und seinen Lebensbedingungen, sondern dem Volk und Fragen von Degeneration und Aufwertung gegolten. Diesen Wandel führt Mocek auf die verstärkte Übernahme bürgerlichen und akademischen Denkens durch den reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung zurück. Er hebt hervor, dass sich die KPD und nachfolgend der reale Sozialismus in der DDR und anderen Ostblockländern einer Annäherung an eugenisches Gedankengut enthalten habe. Eine genaue Beleuchtung des Diskussionsverlaufs zu Eugenik im kommunistischen Flügel der Arbeiterbewegung nimmt er jedoch nicht vor, sondern beschränkt sich auf einige Schlaglichter wie etwa eine Darstellung der ganzheitlichen Medizin des kommunistischen Arztes Friedrich Wolf.

Moceks Arbeit erhält ihre grundsätzliche Ausrichtung durch den Klassenstandpunkt, den er seiner Analyse der verschiedenen Ausprägungen des sozialtheoretischen Biologismus zu Grunde legt. So teilt er die Annäherung an die natürlichen Grundlagen der menschlichen Existenz in eine bürgerliche Interpretation, die ein besseres Funktionieren der bestehenden Ordnung angestrebt habe und eine proletarische Sichtweise auf, die auf der Annnahme einer prinzipiellen Unvereinbarkeit dieser Ordnung mit dem Ideal einer gleichen, gerechten und naturgemäßen Gesellschaft bestanden habe. In diesem Zusammenhang hätte sich der proletarische Biologismus auf die depravierenden Lebensumstände großer Teile der arbeitenden Bevölkerung bezogen und sei keiner Phantomdebatte aufgesessen. Dass schlechte Verhältnisse auch schlechte Menschen hervorbrächten, sei dabei ganz physiologisch gedacht worden, weshalb es nahegelegen habe, aus den schlechten Lebensumständen der Arbeiterschaft und der Existenz eines Lumpenproletariats eine allgemeine Entartung der Menschheit abzuleiten. Die hiermit implizierte Milieuorientierung habe dazu geführt, dass sich bereits bei Mesmer der Gedanke der keimbefördernden guten Tat finde und sich die rassenhygienischen Strömungen der Arbeiterbewegung nachfolgend mehrheitlich am Theorem der evolutionären Adaption des französischen Naturkundlers Lamarck orientiert haben. Wahre proletarische Rassenhygiene sei daher eine auf die menschliche Natur abgestimmte Sozialpolitik gewesen, weshalb man sie – abgesehen von der sozialistischen Eugenik der Weimarer SPD – in einem "versöhnlichen Licht" (S. 395) sehen müsse, da sie nicht in Forderungen nach eugenischer Repression, sondern in freiwillige Einsichten wie etwa eine bewusste Partnerwahl gemündet sei.

Mocek ist zweifellos zuzustimmen, dass die in der Arbeiterbewegung populären Formen von Eugenik oder Rassenhygiene nicht auf eine Stufe mit der nationalsozialistischen Eugenik gestellt werden können. Auch betont er zu Recht, dass es innerhalb des Spektrums sozialistischer Politiken sehr unterschiedliche Interpretationen und Haltungen zum Darwinismus und zur Eugenik gegeben hat, die auf einen uneinheitlichen Rezeptionsverlauf verweisen. Aufgrund seiner Aufspaltung in eine linke und humane lamarckistische Schule, die sich der Lösung sozialer Schwierigkeiten widmete, und eine menschenverachtende und rechte darwinistische Traditionslinie, die auf den Erhalt der damaligen Ordnung zielte, gelangt Mocek jedoch zu einer Darstellung damaliger Diskussions- und politischer Frontverläufe, die nicht immer genügend differenziert wirkt. So lässt er interne Exklusionsmechanismen der Arbeiterbewegung entweder außen vor oder aber erklärt sie durch eine Übernahme bürgerlichen Denkens, womit sie als nicht zur eigentlichen ideengeschichtlichen Tradition der Arbeiterbewegung gehörend definiert sind. Den von Schwartz thematisierten Prozess der zunehmenden Biologisierung des Gegensatzes zwischen der Elite der Arbeiterbewegung und dem sogenannten lumpenproletarischen Pöbel als einem Abgrenzungsmodus der organisierten Arbeiterschaft gegenüber den untersten sozialen Schichten lässt Mocek daher außer Acht. 1
Inwieweit dieser Modus die politische Praxis der verschiedenen Flügel der Arbeiterbewegung beeinflusste und möglicherweise auch ihr allgemeines humanistisches Anliegen in Frage stellte – etwa in Hinblick auf die von Mocek angeführten freiwilligen, auf die Partnerwahl bezogenen medizinischen Einsichten – wird von ihm somit leider nicht diskutiert. Unabhängig von dieser Kritik stellt Moceks Arbeit aber einen sehr wichtigen Beitrag dar, der sich nicht nur durch eine detaillierte Kenntnis des Feldes sowie durch materialreiche Analysen auszeichnet, sondern auch den Forschungsstand insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis der frühen Arbeiterbewegung zu Fragen der Biologie und Naturwissenschaften erheblich bereichert.

Sören Niemann-Findeisen, Hamburg




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