ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 130), Droste Verlag, Düsseldorf 2002, 530 S., geb., 64,80 EUR.

War der Reichstag der Weimarer Republik eine Schwatzbude? Ein klares "Ja!" repräsentiert die damalige öffentliche Meinung. Nach dem katastrophalen Ersten Weltkrieg und vor oftmals düstere Zukunftsaussichten gestellt, verlangten die Menschen nach politischen Führern und entschiedenen Taten. In der Geschichtsschreibung überlebte unausgesprochen das Bild eines letztlich bedeutungslosen Reichstags, abzulesen an der weitgehenden Nichtberücksichtigung des nach der Verfassung institutionellen Zentrums der Republik. Einen prononcierten Gegenentwurf legt Thomas Mergel mit seiner Habilitationsschrift vor.

Das Anliegen und Vorgehen der Studie ist es nun aber nicht, Ort und Rolle des Parlaments im Institutionengefüge und in den politischen Konstellationen der Weimarer Republik politikhistorisch zu rekonstruieren: etwa entlang einzelner Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse der Legislative, die analysiert würden, um den Einfluss des Parlaments auf die Gestaltung von Politik herauszuarbeiten. Die methodisch anspruchsvoll und sprachlich elegant vollführte Grundsteinlegung einer Geschichte des Weimarer Parlamentarismus ist dem "cultural turn" verpflichtet. Eine meist jüngere Generation von Historikern und Historikerinnen sucht, jenseits der Nacherzählung von Ereignissen und der Analyse von Strukturen, nach jener schwer greifbaren Sphäre des Vergangenen, die auf sprachlich und symbolisch vermittelte Mentalitäten, Identitäten, Sinngebungen und auf den Zusammenhalt von Kollektiven verweist.

Es geht dem Verfasser somit nicht um die politischen Fragen, die im Reichstag verhandelt wurden, sondern im Kern um einen tief greifenden und in der Endphase der Republik zerstörerischen Widerspruch: Der Reichstag war (bis 1928) intern durch Integration, Konsens und Kompromissfindung geprägt. Die Gesellschaft, die er repräsentierte, war hingegen von Fragmentierung gezeichnet und verwarf seine kooperative Arbeitsweise als schädliches Kompromisslertum. "Was den Reichstag im Inneren zusammenhielt", so die Formulierung des Hauptergebnisses der Studie, "stellte ihn vor Legitimationsprobleme nach außen". (S. 482)

Auf der einen Seite handelt die Studie also davon, wie im Reichstag Politik sozial und kommunikativ hergestellt wurde. Die Grundlage hierfür bildete ein "Wir-Gefühl" der Reichstagsabgeordneten, die durch Rituale ihre Unsicherheit verminderten, durch formelle und informelle Regeln ihre Arbeitsfähigkeit sicherten. Verbunden waren sie zudem durch quer zu Fraktionszugehörigkeiten liegende gemeinsame Erfahrungen, Interessen und Freundschaften.

Dieser innere Zusammenhalt der Abgeordneten und sein Zustandekommen im Alltag der Institution wird (nach einem "Prolog" zur verfassungsgebenden Nationalversammlung) im ersten bis dritten Teil differenziert herausgearbeitet. Den Anfang macht eine spannend und anekdotenreich erzählte Rekonstruktion des Reichstags als architektonischer, sozialer und symbolischer Raum, einschließlich der sozialen Zusammensetzung und der Lebensweise der Abgeordneten (I. Teil). Die Praxis des Gesetzemachens schließt sich thematisch an. Es geht um die Herstellung der Ordnung durch formale Regeln des Zusammenarbeitens und Redens, um das Durchbrechen derselben, meist aus gekränkter Ehre. Betrachtet werden des Weiteren die Verfahrens- und Verhandlungsformen im Plenum und vor allem hinter den Kulissen: in den Fraktionen, Ausschüssen, im Ältestenrat in der Zusammenarbeit von Interessenvertretern über Parteigrenzen hinweg (II. Teil). Schließlich wird die politische Kommunikation im Reichstag in den Blick genommen, mit ihren informellen Regeln des Sprechens, den spezifischen parlamentarischen Sprachen und der dialogischen Interaktion im Plenum durch Zwischenrufe, Replik und Lachen. (III. Teil). Das konsensorientierte Bemühen, Anschlussfähigkeit, d.h. das Weitermachen sicherzustellen, so die Quintessenz, erzeugte eine von Integration und Kooperation durchdrungene "Realität eigener Art". (S. 27) Sie war so wirkungsmächtig, dass vor 1930 sogar kommunistische und vor allem die deutschnationalen Republikgegner in ihren "Sog" gerieten und sich im Parlament ein Stück weit einen pragmatischen Republikanismus aneigneten.

Auf der anderen Seite steht die öffentliche Wahrnehmung des Reichstags. (IV. Teil) Ebenso fragmentiert wie politisiert, richtete die Öffentlichkeit unerfüllbare Erwartungen an Politik und Parlament, so dass die Enttäuschung über die Weimarer Demokratie gleichsam bereits darin angelegt war. Die Politik sollte etwas leisten, was der Gesellschaft selbst nicht gelang, nämlich Homogenität herstellen und kollektive Identität schaffen. Die Abgeordneten sollten als eine Art besseres Selbst des Volkes die parteiübergreifend ersehnte "Volksgemeinschaft" vorwegnehmen, die Zerrissenheit in Reinheit und Tugend überwinden. Die Art und Weise, wie die Abgeordneten in dem für die Öffentlichkeit weitgehend uneinsehbaren Binnenraum des Parlaments die geforderte Zusammenarbeit über die parteipolitischen Gräben hinweg bewerkstelligten, wurde aber in der öffentlichen Meinung als eklatanter Verstoß gegen die zugleich verlangte Tugendhaftigkeit der Politik angesehen: In einer seelenlosen Maschine würden gesichtslose, von den ersehnten Führerpersönlichkeiten weit entfernte Abgeordnete bloße Parteipolitik machen, verfolgten als Lobbyisten hinter den Kulissen Sonderinteressen und kämen, nicht zuletzt dank Kungelei und Korruption zu "faulen Kompromissen", für die dann in den Reichstagsreden, als alles schon entschieden sei, marktschreierisch Reklame gemacht werde.

Im fünften Teil beschreibt Thomas Mergel anschaulich und eindringlich, wie der "Widerspruch zwischen Prinzip und Pragmatik" (S. 479), welcher das Verhältnis zwischen Parlament und Öffentlichkeit von Anfang an bestimmte, seit 1928 in das Parlament selbst einzog und eine destruktive Dynamik entfaltete. Sie leitete das Ende der parlamentarischen Gemeinsamkeit ein. Drei Faktoren wirkten zusammen: Erstens das Anwachsen der systemoppositionellen Parteien, die nun erstmals bewusste Obstruktion an die Spitze ihrer parlamentarischen Agenda setzten. Zweitens die Rechtswende der DNVP; sie bildete ursprünglich zusammen mit SPD, Zentrum, DVP und DDP die Gruppe des Parlaments, welche die zivilen und kooperativen Gepflogenheiten im Reichstag abgesichert hatte. Unter der Führung Hugenbergs verließ sie diesen Konsens der parlamentarischen Ordnung und gab die bisher bewahrte, konstruktive Mitarbeit auf. Auch die anderen Fraktionen unterlagen drittens zunehmend dem Druck ihrer jeweiligen Parteibasis, stärker als bisher auf die Reinheit der Grundsätze statt auf Konsensorientierung zu setzen. In Folge brachen die Kommunikationsstrukturen des Reichstags zusammen. Statt Integration herrschte nun Dissoziation vor, die Anschlussfähigkeit wurde aufgegeben. Ein Weitermachen war immer weniger möglich. Die formellen und informellen Regeln des Zusammenarbeitens und Redens wurden durch bewusstes Durchbrechen durchlöchert, die Sprache der Abgeordneten verhärtete sich, Inhalte verschwanden hinter endlosen Debatten über Geschäftsordnungs- und Verfahrensfragen, die vor allem von NSDAP und DNVP aufgeworfen wurden, um den Ablauf zu stören. Der Reichstag gab auf diese Weise ab 1931, so die These des Autors, selbst seine Funktion auf, sie wurde ihm nicht nur von außen genommen.

Abgesehen von manchen Ungenauigkeiten im historischen Detail, provoziert die Studie an vielen Stellen Fragen und Diskussionsbedarf. So etwa die These vom republikanisch-demokratischen Potenzial der DNVP, welches auch dadurch nicht zur Geltung kommen konnte, weil die demokratischen Parteien, vor allem die SPD, den deutschnationalen Abgeordneten zum Einen ihr vorsichtiges Einschwenken auf den Boden der faktischen Republik als Mangel an Rückgrat zum Vorwurf machten. Zum Anderen misstrauten die Republikaner ihnen seit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch im Jahre 1920. Ein Problem der Konzeption, nämlich dass der Binnenraum des Reichstags und der öffentliche Diskurs zum Parlamentarismus zu getrennt von den sonstigen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen und Konstellationen behandelt wird, wirkt sich hier womöglich aus. Es mag sein, dass die deutschnationalen Reichstagsabgeordneten in den "Sog" der innerparlamentarischen Kohäsionskräfte gerieten (es könnte sich aber auch um einen gegenrevolutionären Attentismus gehandelt haben), die Partei war als Ganzes aber davon weit entfernt, was m.E. in der Studie für die Zeit bis Ende der 20er Jahre zu sehr aus dem Blick gerät. Problematisch ist des Weiteren, was auf den letzten Seiten des Schlusses, in einem kleinen Ausblick auf die Bundesrepublik aufscheint: Ein von der in diesem Fall gelungenen parlamentarischen Kultur vorgeformtes Bild "guter Politik" als einem pragmatischen und kooperativen Organisieren von Gesellschaft wird als konstrastierende Positivfolie auf die anders gelagerten Verhältnisse der Weimarer Jahre angewendet. Was davon damals unter welchen Voraussetzungen möglich und durchsetzbar gewesen wäre, bedürfte vermutlich einer eigenen Monographie.

Dass solche Fragen aufgeworfen werden, ist ein Ausweis der Entschiedenheit, ausgetrampelte Pfade der Forschungslandschaft zur Weimarer Republik zu verlassen. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte von Mentalitäten und der politischen Kultur der ersten deutschen Demokratie und zugleich methodisch anregend für die Erforschung der Geschichte und Soziologie von Parlamenten überhaupt.

Erik Eichholz, Hamburg


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