ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Claudia Kraft, Europa im Blick der polnischen Juristen. Rechtsordnung und juristische Profession in Polen im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa 1918-1939 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Band 156), Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 2002, 370 S., geb., 68,80 EUR.

Die Untersuchungsgegenstände dieser Marburger Dissertation sind die Rechtsordnung und die juristische Profession im Polen der Zwischenkriegszeit und deren Verortung im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa. Die Rechtsordnung wird allerdings nicht nach juristischen, sondern nach soziologisch-historischen Maßstäben untersucht.

Einführend wird deutlich gemacht, dass es darum gehe, die seit 1989 veränderten historischen Rahmenbedingungen dazu zu nutzen, die Zweite Republik der polnischen Zwischenkriegszeit nicht – wie angeblich die bisherige Forschung zu dem Thema – von ihrem Ende her, also unter dem Gesichtspunkt ihres Scheiterns zu betrachten. Es "soll ausdrücklich die Kompatibilität zu gesamteuropäischen Entwicklungen aufgezeigt werden" (S. 8). Die Zweite Republik solle nicht als defizitäres Übergangsphänomen erscheinen. Vielmehr solle auf die Ausgangsbedingungen, "die der Garant für positivere Entwicklungen hätten sein können", hingewiesen werden.

Das "Erbe der Teilungszeit" wird sehr eindrücklich herausgearbeitet, wobei das Vermächtnis aus den früheren drei Teilungsgebieten und die damit verbundene Heterogenität des polnischen Staatsverbands offensichtlich nicht nur "Schwäche", sondern auch "Chance" war. Im vormals russischen Teilungsgebiet boten die politischen Institutionen und rechtlichen Kodifikationen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtige Anknüpfungspunkte für positive Entwicklungen im Bereich des Rechtswesens. Als hilfreiches preußisches Erbe werden Ansätze zur ökonomischen und politischen Modernisierung verstanden. Und die galizische Autonomie im österreichischen Teilungsgebiet hatte zur Folge, dass sich polnische Politiker und Beamte im Regierungs- und Verwaltungsalltag zu beweisen hatten (S. 58).

Anschließend werden die Arbeit der polnischen Kodifikationskommission der Zwischenkriegszeit und insbesondere die Frage nach den Einflüssen aus dem Ausland untersucht. Die Gelehrtenkommission ließ sich von vielen verschiedenen Rechtsordnungen (u.a. Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Schweiz) inspirieren und entwickelte mit dieser selektiven Rechtsrezeption eigene, moderne und auch im Ausland beachtete Gesetzesentwürfe. Allerdings sieht die Autorin hier von einer Analyse der konkreten materiellen Normsetzung ab, so dass nicht recht klar wird, in welchem Ausmaß die jeweiligen Vorbilder letztlich in geltendes Recht umgesetzt werden konnten. Die "argumentative Rolle" des Rechts im nationalen Identitätsdiskurs wird in den Vordergrund gerückt (S. 110). Dies erfolgt im Wesentlichen unter Rückgriff auf die historischen Akten der Kommission. Leider erschließt sich nicht, nach welcher Sekundärquelle diese im Zweiten Weltkrieg vernichteten Akten (vgl. S. 14, Fn. 18) zitiert werden. Ferner fehlt – mangels einer Untersuchung der materiellen Rechtslage – eine kritische Auseinandersetzung mit den Behauptungen der seinerzeitigen Kommissionsmitglieder. Daher wird auch nicht der tatsächliche Anteil der jeweiligen westeuropäischen Mutterländer an der polnischen Rechtsrezeption in der Zwischenkriegszeit deutlich. So entsteht ein eher unscharfes Bild, das bereits im Titel und in der Einführung als Zielvorgabe aufscheint: "Europa im Blick der polnischen Juristen".

Dieses Bild wird auch im folgenden Kapitel über "die Arbeit der Kodifikationskommission im Spannungsfeld innerer und äußerer Rechtsunifizierung" nicht schärfer. Zunächst wird das Zustandekommen des polnischen Internationalen und Interlokalen Privatrechts geschildert. Anschließend wird der Beitrag Polens zu den Bemühungen im Bereich der internationalen Privatrechtskonventionen beleuchtet. In beiden Bereichen wird deutlich, dass der Status eines "Nachzüglers" auch Vorteile mit sich bringt – nämlich die Möglichkeit zur Schaffung moderner, neuer Regelungen. Insbesondere Polens bedeutende Rolle bei der Erarbeitung der Internationalen Wechsel- und Scheckrechtskonvention von 1930 zeigt eindrücklich die Startvorteile des Nachzüglers für die Integration in das internationale System. Mögliche strukturelle Parallelen zur heutigen Integration Polens und seiner Rechtsordnung in die Europäische Gemeinschaft liegen auf der Hand. Sie werden in anregender Weise angedeutet, aber nicht überstrapaziert: Die Autorin weist zu Recht darauf hin, dass bei den Privatrechtskonventionen der Zwischenkriegszeit ein "utilitaristischer Impetus" der im Völkerbund zusammengeschlossenen Nationalstaaten die Antriebskraft war und nicht idealistische Vorstellungen von "Europa" (S. 149).

Äußerst spannend zu lesen ist das Herzstück des Buchs, das – entgegen seiner Überschrift – nicht "die Rolle der juristischen Profession im polnischen Staat" behandelt, sondern die Rolle des Nationalen und Religiösen in einigen Diskussionen innerhalb der polnischen Juristenschaft der Zwischenkriegszeit. Im Wesentlichen unter Auswertung von zwei juristischen Zeitschriften wird deutlich gemacht, wie die nationale Identität alle anderen Identitäten zunehmend überlagerte und wie fachspezifische juristische Kriterien in den Diskussionen in den Hintergrund traten. Die Autorin begreift die Hinwendung vieler polnischer Juristen zum Nationalismus, teilweise auch zum Rassismus, als "Generationenkonflikt". Der zunehmende Antisemitismus wird anhand der Diskussion um einen numerus clausus bei der Berufszulassung jüdischer Juristen veranschaulicht. Am Beispiel des Eherechts wird deutlich gemacht, dass nationale und religiöse Argumente frühere Ansätze für eine Gleichbehandlung der Frauen in Polen zunichte machten.

Anschließend wird die gewachsene Bedeutung der polnischen Juristenschaft in internationalen Institutionen untersucht. Polnische Juristen waren allgemein darum bemüht, "auf allen Foren der juristischen Kooperation, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren, präsent zu sein" (S. 256). Dies wird anhand der Bemühungen um eine internationale Vereinheitlichung des Strafrechts exemplifiziert.

Die Arbeit zeichnet sich durch eine klare Sprache aus. Selbst das juristische Fachvokabular wird sicher beherrscht, und die Übersetzungen aus dem Polnischen sind dem Sprachgebrauch deutscher Juristen angepasst. Zu bemängeln ist, dass die mannigfaltige deutschsprachige Fachliteratur zur polnischen Rechtsentwicklung – anders als die polnischsprachige – weitgehend unberücksichtigt bleibt. Damit klinkt sich die Autorin ohne Not aus dem Diskurs hierzulande aus. Angesichts der Fragestellung, in der es u.a. um die Einflüsse aus dem Ausland auf die polnische Rechtsordnung geht, ist diese Selbstbeschränkung befremdlich. Die zu Beginn der Arbeit gelieferte Erklärung für die nationale Verengung des Blickwinkels ist als irregeleitet zu bezeichnen: Totalitären Argumentationsmustern folgend wird die gesamte deutsche Ostrechtsforschung (die die Autorin aus unerfindlichen Gründen in Anführungszeichen setzt) ohne nähere Belege unter Ideologieverdacht gestellt: "Mit kleineren Ausnahmen blieb sie bis zum Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa vor allem auf Abgrenzung bedachte Legitimationswissenschaft der eigenen Rechts- und Gesellschaftsordnung" (S. 22 f.). Ausgewiesene Ostrechtler der Nachkriegszeit, die im Dritten Reich verfolgt worden waren, werden – wiederum ohne Nachweise oder Belege – wegen ihrer angeblichen Nähe zum nationalsozialistischen Regime diffamiert (S. 24). Und eine sachliche, juristische Untersuchung zum Einfluss des deutschen Rechts auf die polnische Rechtsordnung der Zwischenkriegszeit wird ohne Beleg und völlig zu Unrecht als Legitimation des nationalsozialistischen Besatzungsrechts in Polen verstanden (S. 25).

Dieser Pauschalverdacht ist als solcher nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch schlichtweg unzutreffend. Die Institute für Ostrecht (u.a. in Berlin, Hamburg, Köln und München) haben – in größerem Maße als die Vertreter anderer Fachdisziplinen – seit jeher Wert darauf gelegt, in ihren Publikationsorganen (Jahrbuch für Ostrecht, Osteuropa-Recht, WGO – Monatshefte für Osteuropäisches Recht u.a.) und auf zahlreichen Konferenzen auch die Autoren aus den untersuchten Ländern zu Wort kommen zu lassen, um mit ihnen in einen unaufgeregten juristischen Dialog zu treten – und dies sogar schon lange vor der Ausrufung einer neuen Ostpolitik durch Bundeskanzler Brandt. Viele Ostrechtler haben für diesen jahrzehntelangen, systemübergreifenden Beitrag zur Völkerverständigung nach der Systemwende 1989 staatliche Orden und Ehrendoktorwürden aus den östlichen Nachbarländern erhalten, und die grenzüberschreitende Forschungszusammenarbeit hat sich seither – im Zuge der beständig anwachsenden Rechtsbeziehungen mit unseren östlichen Nachbarländern – noch weiter intensiviert. Völlig fehlgeleitet und realitätsfern ist daher die Behauptung, der Disziplin der Ostrechtsforschung, die schon lange vor dem Einzug des Kommunismus in Ost- und Ostmitteleuropa etabliert war, sei "mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems in Osteuropa ihr ursprünglicher Forschungsgegenstand abhanden gekommen" (S. 22, Fn. 43).

Unter anderem wegen dieser nationalen und ideologischen, gegen die Erkenntnisse der deutschsprachigen Ostrechtsforschung (insbesondere im Hinblick auf den Einfluss des deutschen und österreichischen Rechts) gerichteten Scheuklappen, die ironischerweise denjenigen der von der Autorin kritisierten, nationalistisch orientierten polnischen Juristenschaft der Dreißiger Jahre ähneln, versperrt sich die Autorin in ihrer Schlussbetrachtung den Blick auf wesentliche, mit der Arbeit aufgeworfene Fragen zur Vergleichbarkeit der Lage Polens in der Zwischenkriegszeit nach 1918 und in der Transformationsperiode nach 1989: Welche Lehren kann das heutige Polen aus den Rechtsrezeptionen der Zwischenkriegszeit ziehen? Wie groß ist die Gefahr eines nationalen Gegenreflexes gegen die Übernahme des acquis communautaire? Wie bedeutsam ist das Element der Freiwilligkeit bei der Rechtsrezeption? War die juristische Entwicklung in der Zweiten Republik nicht eher eine Entwicklung weg von den europäischen Vorbildern, während seit 1989 eine Bewegung hinein in die europäische Rechtsordnung zu verzeichnen ist? Ist vor dem Hintergrund früherer Erfahrungen in Polen demnächst mit einem Generationenkonflikt in der Juristenschaft zu rechnen? Sind die Traditionen des Nationalen und des Religiösen im gesellschaftlichen Diskurs Polens als Gefährdung einer gelungenen Integration anzusehen? Wo liegen die traditionellen integrationsfreundlichen Gegenströmungen? Ist die heutige, relative nationale Homogenität als integrationsfreundlich oder -hemmend zu bewerten? Hier gelangt die Autorin zu dem dürren Ergebnis, dass die beiden historischen Ausgangssituationen nur bedingt vergleichbar sind, dass aber immerhin in beiden Fällen "gesamtgesellschaftliche Umbauleistungen" erforderlich waren (S. 320). Und sie hält die – eigentlich von niemand ernsthaft bestrittene – Selbstverständlichkeit für bestätigt, dass Polen "kulturell schon immer zu Europa gehört hat" (S. 321).

Niels v. Redecker, München


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Februar 2003