ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 1), Wallstein Verlag, Göttingen 2002, 587 S., geb., 40 EUR.

Die Geschichtswissenschaft bevorzugt Abgeschlossenes als Gegenstand ihres Forschens. Seit dem (tatsächlichen oder vermeintlichen) Ende der "alten" Bundesrepublik durch die Wiedervereinigung wird folglich vermehrt Rückschau auf Wesen und Werden der Bundesrepublik gehalten. Diesem Anliegen ist auch der von dem renommierten Zeithistoriker Ulrich Herbert herausgegebene Band in spezifischer Weise gewidmet. Die Geschichte Westdeutschlands wird interpretiert als Geschichte des zwar durch die NS-Vergangenheit schwer belasteten, konfliktreichen und somit keineswegs geradlinigen, aber schließlich doch erfolgreichen Lernprozesses einer tief greifenden Liberalisierung von Politik, Recht und Gesellschaft zwischen 1950 und 1970.

In seiner einleitenden "Skizze" verortet der Herausgeber diesen "geradezu atemverschlagend" (S. 7) rasanten Lernprozess der 60er Jahre in der jüngeren deutschen Geschichte. Er wird als Überwindung einer von Ablehnung und Angst geprägten Reaktion auf die sich seit etwa 1890 durchsetzende Industriegesellschaft verstanden. Die vollständige Veränderung der Lebenswelten war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch einen umso rigideren Rückbezug auf Tradition und Sittlichkeit, Autorität und Staatsfixiertheit eingehegt worden - ein Schutzmechanismus gegen die unvermeidliche Verunsicherung durch die Hochmoderne. Das NS-Regime mit seiner tiefen "Einwurzelung" in der deutschen Gesellschaft (S. 15) radikalisierte diese Abwehr. Gerade die Nachkriegsgesellschaft, in ihrer Orientierungslosigkeit und im Angesicht der unmittelbaren Vergangenheit, hielt im Kern daran fest.

Die Aufsätze, größtenteils vom wissenschaftlichen Nachwuchs der "Freiburger Forschungsgruppe zur Geschichte der Bundesrepublik" um Ulrich Herbert verfasst, gruppieren sich zu vier Schwerpunkten. In den ersten beiden Forschungsfeldern wird eher der belastende Umgang mit den nationalsozialistischen Hinterlassenschaften thematisiert, während der Fokus in den anderen beiden Schwerpunkten auf dem politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Wandel der 60er Jahre ruht. Unter dem Obertitel "Abwehr und Legitimation" wird zunächst die intellektuelle Auseinandersetzung in der frühen Bundesrepublik mit Schuld und Schuldvorwurf erforscht. Die Zurückweisung des "Kollektivschuld"-Vorwurfs und damit von politischer Verantwortung für die Verbrechen (Jan Friedemann/Jörg Später), die Abwehr und Nicht-Rezeption der Thesen amerikanischer Holocaust- und NS-Forschung, welche gerade diese Verantwortung betonten (Nicolas Berg) und eine selektive Rezeption des Widerstandes im "Dritten Reich", welche den nationalen Widerstand zur Ehrenrettung der deutschen Geschichte verklärte (Jan Eckel), waren von dem selben Anliegen getragen: die identitätsstiftende Kontinuität und Legitimität der deutschen Nationalgeschichte zu "retten".

Im zweiten Schwerpunkt wird die Frage nach personeller "Kontinuität und Integration" von NS-Tätern in die Gesellschaft der Bundesrepublik gestellt. Die beiden Aufsätze befassen sich exemplarisch mit jeweils einer genau abgrenzbaren Tätergruppe: mit der "Resozialisierung der NS-Kriminalisten" (Patrick Wagner) und mit den ehemaligen Chefs der Sicherheitspolizei im besetzten Frankreich (Bernhard Brunner). Dadurch können die Autoren zu präzisen Einschätzungen kommen, welche auch generelle Aussagen zur Integration der westdeutschen Gesellschaft zulassen. Beiden Personengruppen, welche an den Schalthebeln der nationalsozialistischen Mordpolitik agierten, gelang eine erstaunlich reibungslose Eingliederung in die Gesellschaft, den Kripo-Beamten sogar der Aufbau des Bundeskriminalamtes. Zu den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rückkehr an die Spitzen der Gesellschaft gehörte, dass sie sich nicht unkollegial verhalten hatten, zu den gesellschaftlichen Eliten gehörten - also nicht dem Nationalsozialismus ihren sozialen Aufstieg verdankten - sowie bereit waren, sich mit dem gleichen Ehrgeiz und Opportunismus wie im "Dritten Reich" nun in der Bundesrepublik als "Demokraten" um die Fortsetzung ihrer Karrieren zu kümmern.

"Politische Umorientierungsprozesse" sind das Leitmotiv des dritten Schwerpunktes. Moritz Scheibe untersucht anhand des politik- und sozialwissenschaftlichen Diskurses den Umbruch von dem formalen, statischen und staatsfixierten Demokratiebegriff der 50er Jahre zu den Forderungen der 60er und 70er Jahre nach Transparenz und Demokratisierung aller Lebensbereiche. Christina von Hodenberg relativiert das von der Mediengeschichte gezeichnete Bild einer "Stunde Null" des westdeutschen Journalismus. Nachdem die westlichen Besatzungsmächte die Entnazifizierung nicht mehr kontrollierten, strömten "belastete" Journalisten zurück in die Redaktionsstuben. Erst nach ihrer Ablösung durch die Generation der "45er", also derjenigen, die das Kriegsende als Jugendliche erlebten, konnte sich eine "kritische Öffentlichkeit" etablieren.

Der abschließende und mit sechs Aufsätzen umfangreichste vierte Schwerpunkt befasst sich mit "Abweichung, Norm, Einstellungswandel". Sybille Buske rekonstruiert die Geschichte der rechtlichen Diskriminierung unehelicher Kinder als heftigen Widerstand gegen soziale und kulturelle Konsequenzen der Modernisierung und die erst 1970 erfolgte rechtliche Gleichstellung folglich als beredten Ausdruck ihrer inzwischen erreichten, allgemeinen Billigung. Interpretation und Sanktion von Jugendkriminalität war, so der Aufsatz von Imanuel Baumann, in der frühen Bundesrepublik von kriminalbiologischem Denken geprägt, erst in den 60er und 70er Jahre kam es zu einer Pluralisierung der Kriminologie, welche nun zunehmend soziale Kriminalitätsursachen beachtete. Am Beispiel des Homosexuellenstrafrechts analysiert Michael Kandorra den Wandel der strafbewehrten Sexualnormen. Der Tradition des Kaiserreiches folgend, sollte das Strafgesetz den überindividuellen Wert des Sittengesetzes schützen, gerade in der durch Orientierungslosigkeit bedroht scheinenden frühen Bundesrepublik. Nach der Strafrechtsreform der frühen 70er Jahre galt statt dessen die strafrechtliche Ahndung dem Schutz konkreter Menschen vor Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, mithin wurde auch Homosexualität erwachsener Männer nicht länger mit Gefängnis bedroht. Diskurs, Rechtssetzung und Praxis geradezu vorbildlich verknüpfend, blickt der Aufsatz von Julia Ubbelohde auf den Umgang mit jugendlichen Normverstössen in Jugendschutz, Jugendhilfe und Heimerziehung. Sie konstatiert auf diesem Feld einen in den späten 50er Jahre einsetzenden Wandlungsprozess, den sie als Rückgang von Sanktion und Strafe und als partnerschaftlicheres Generationenverhältnis kennzeichnet. Repressive Formen der Normendurchsetzung wurden "durch subtilere, auf Kommunikation, Integration und Zustimmung bauende Methoden" (S. 435) ersetzt. Eine innovative Sonde für den Wandel von Erziehungsstilen wendet Torsten Gass-Bolm mit seiner Untersuchung der Schulzucht an. Indem er die Entwicklung schulischer Strafen am Beispiel eines einzelnen (Jungen-)Gymnasiums betrachtet, vermag er tief in den Alltag der Erziehung einzutauchen: in den 60er und 70er Jahren wurden Normierungen, v.a. des "sittlichen" Verhaltens außerhalb der Schule abgebaut, die Lehrer verabschiedeten sich von der in den 50er Jahren vorherrschenden "Pädagogik des Durchgreifens", insgesamt wurde die Position von Schülern aufgewertet. Den Abschluss des Bandes bildet der Aufsatz von Cornelia Brink, welcher die Entwicklung von Zwangseinweisungen in die Psychiatrie bis 1980 behandelt und dabei implizit einen Kontrapunkt zur Leitthese von der Liberalisierung setzt: von einem solchen Prozess ist hier wenig zu spüren.

Unter dem Strich bleibt der Eindruck einer durchaus anfechtbaren success story. Illiberale Traditionen, die auch über die Aufbruchsjahre zwischen 1950 und 1970 hinweg fortwirkten, bleiben, vor allem durch die thematische Auswahl der Forschungsfelder, unterbelichtet, der Wandel und damit der Erfolg des bundesrepublikanischen Modells erscheint mithin in einem umso helleren Licht. Es ist gerade angesichts des wissenschaftlichen Profils von Ulrich Herbert (es sei an seine Geschichte der Zwangsarbeiter, sein Engagement für ihre "Entschädigung" und an seine wegweisende Biographie des radikal völkischen NS-Täters Werner Best erinnert) irritierend, dass dem Thema Rassismus sowohl in seiner einleitenden Skizze als auch im inhaltlichen Zuschnitt des gesamten Bandes nur eine völlig marginale Rolle zukommt. So fehlt, um nur ein Beispiel zu nennen, der bundesrepublikanische Umgang mit Migranten, welcher angesichts der fortwirkenden fremdenfeindlichen Tendenzen, der langjährigen Verweigerung, Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen und vor allem angesichts der weitgehend stillschweigend geduldeten, gewalttätigen kulturellen Hegemonie von Rechtsradikalen in Teilen Deutschlands deutliche Fragezeichen an die These eines fundamentalliberalisierten Deutschland setzen könnte.

So wurde mit dem Fokus auf Wandel und Liberalisierung primär die eine Seite der Medaille erforscht, dies aber auf eine instruktive Weise. Die Aufsätze eröffnen neue oder vertiefen bekannte Perspektiven auf die Geschichte der Bundesrepublik, durch die komplexe Transformationen sichtbarer werden, die bis in die Gegenwart das Leben in ihr prägen.

Erik Eichholz, Hamburg


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