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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rainer Fattmann, Bildungsbürger in der Defensive. Die akademische Beamtenschaft und der "Reichsbund der höheren Beamten" in der Weimarer Republik (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 145), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, 272 S., kart., 34 EUR.

Der im Frühjahr 1918 gegründete "Bund höherer Beamter", im August 1921 in "Reichsbund höherer Beamter" (RhB) umbenannt, erfasste mit knapp 100.000 Mitgliedern mehr als 80% der akademisch gebildeten Beamten. Diese Berufsgruppe erreichte damit den höchsten Organisationsgrad aller abhängig Erwerbstätigen in Deutschland. Die Dissertation von Rainer Fattmann verknüpft eine verbandshistorische Untersuchung mit einer Analyse der sozialen und ökonomischen Situation der Beamten einschließlich ihres Alltagsverhaltens und Lebensstils. Der Autor geht der Frage nach, ob die höhere Beamtenschaft in der Weimarer Zeit als "eine soziale Gruppe mit einem Kanon typischer und definierbarer verhaltensregulierender Normen und Ansichten" bezeichnet werden kann, und versucht, das soziale, ökonomische und ideologisch-politische Profil der Gruppe "präziser als bisher" zu bestimmen. Er stellt damit die verbreitete Ansicht auf den Prüfstand, dass gerade die höhere akademisch gebildete Beamtenschaft durch ihre Verwurzelung im autoritären Obrigkeitsstaat preußischer Prägung wesentlich zur Zerstörung der Weimarer Demokratie beigetragen habe.

Quellenbasis der Arbeit sind die Akten des Verbandes einerseits, seine Zeitschriften und Publikationen sowie amtliche Statistiken andererseits. Nicht in die Untersuchung einbezogen sind die politischen (Wahl)beamten und die katholischen Priester.

In Kapitel 1 untersucht Fattmann die zahlenmäßige Entwicklung, die soziale Herkunft, die konfessionelle Zusammensetzung, die Altersgliederung und den Lebensstil. Unter letzterem behandelt er durchschnittliche Kinderzahl, Heiratsalter, Schwerpunkte des Ausgabeverhaltens, Nutzung des Bildungs- und Unterhaltungsangebots, um die Sonderstellung herauszuarbeiten. Besonders geht er auf den im Zusammenhang der Währungsstabilisierung 1923/24 vorgenommenen Beamtenabbau von 25% ein. Er äußert Zweifel an der These, dass davon vorwiegend "republiktreue" Beamte getroffen worden seien, indem er die in die andere Richtung zielende Verbandskritik heranzieht, der Abbau werde zur Entlassung "politisch Missliebiger" genutzt, räumt aber ein, weder das eine noch das andere verifizieren zu können. Ein eigenes Kapitel (2) ist den Beamtinnen im höheren Dienst gewidmet, deren quantitaver Anteil bei knapp 5% lag. Besprochen werden ihre Organisationen und ihre Vertretung im RhB, wo ihr Einfluß sehr gering blieb und sie überdies unter der sehr negativen prinzipiellen Einstellung etlicher angeschlossener, männlich dominierter Berufsverbände (z.B. Richterbund, Philologenverband) zu weiblichen Beamtinnen zu leiden hatten. Fattmann weist nach, dass der Dachverband sich im Unterschied zu jenen schließlich, wenn auch zögerlich, unter Berufung auf die in der Verfassung garantierte Gleichstellung eindeutig gegen vom Staat geplante Benachteiligungen der akademischen Beamtinnen bei Abbau- und Sparmaßnahmen gewandt hat.

In Kapitel 3 werden die Veränderungen in der Besoldung der höheren Beamten vorgeführt, die eine "drastische Erosion" ihrer sozialen Vorzugsstellung hinnehmen mussten. Selbst die Reichsbesoldungsreform von 1927 wirkte als Etappe in dieser Entwicklung: sie brachte zwar auch den höheren Beamten Gehaltserhöhungen, diese wurden jedoch als unzureichend empfunden, weil sie die früheren Verluste nicht ausglichen und geringer ausfielen als bei den niedrigeren Gehaltsstufen, mithin die alten Abstände nicht wiederhergestellt wurden. Eingehend werden schließlich die mehrmaligen Gehaltskürzungen durch die Regierung Brüning erörtert, die bei den Beamten abermals vehemente Ängste vor sozialem Abstieg auslösten und verbittert als "Anschläge auf ihre wohlerworbenen Rechte", die in der Weimarer Verfassung garantiert worden waren, interpretiert wurden. Der Autor stuft zwar die finanziellen Einschnitte als "moderat" ein, da der gleichzeitige Preisverfall die Einbußen an Kaufkraft zumindest teilweise kompensiert habe, hebt aber das politische Ungeschick Brünings hervor, der sich der Kommunikation mit den Verbänden verweigerte und die Maßnahmen ohne psychologische Vorbereitung dekretierte.

Die Kapitel 4 und 5 sind der Geschichte der Organisation der höheren Beamten von den Anfängen im Kaiserreich bis 1933 gewidmet. Das Jahr 1922 ist als Zäsur gewählt, weil als Folge der damals vorgenommenen Umstrukturierung des RhB die Berufsverbände ihren Einfluss auf den Dachverband steigern konnten. Nicht mehr bei dem Vorsitzenden und dem Geschäftsführer, sondern beim Gesamtvorstand lagen seitdem die wesentlichen Entscheidungskompetenzen. Obwohl von 1922 bis 1929 mit dem führenden DVP-Reichstagsabgeordneten Ernst Scholz ein Berufspolitiker Bundesvorsitzender war, betonte der RhB stets, ein überparteilicher und "unpolitischer" Verband zu sein. Wie weit Scholz als "Lobbyist" aktiv geworden ist und was er eventuell bewegt hat, wird indes nicht näher erörtert. Ferner werden in diesem Kapitel die Selbsthilfeorganisationen und das Verhältnis zum Deutschen Beamtenbund behandelt.

Im letzten Kapitel (6) untersucht Fattmann die Stellung der höheren Beamten zum Weimarer Staat. Hier wird einerseits ihr Selbstverständnis als "Inkarnation des Staatsgedankens" sowie als "Kulturträger" erörtert, andererseits das Verhalten von Verbandsführung und Mitgliedern zu jenen Fragen und Ereignissen, an denen die Treue zur Weimarer Demokratie abgelesen werden konnte. Man wird ihm zustimmen müssen, dass bei vielen Beamten die Treue zur Verfassung lediglich formaler Natur war. So zeigt er, dass das etatistische Verständnis die letztlich "unpolitische" Reaktion auf den Kapp-Putsch bestimmt hat. Eine besondere Verpflichtung auf die Republik, wie sie seitens der Regierung Wirth nach dem Mord an Rathenau angestrebt wurde, lehnte der RhB ab. Zum Volksbegehren gegen den Youngplan suchte die Verbandsführung wochenlang eine klare Stellungnahme zu umgehen mit der Begründung, dass man eine "unpolitische" Organisation sei, und beließ es trotz massiver Kritik seitens der demokratischen Parteien und der preußischen Regierung Braun schließlich bei einer halbherzigen Distanzierung von dem demagogischen "Zuchthaus-Paragraphen". Aus zahlreichen Artikeln in der sächsischen Verbandszeitschrift leitet der Autor Affinitäten zu völkisch-nationalistischem oder "jungkonservativem" Denken ab, räumt aber ein, dass die Bundeszeitschrift in dieser Hinsicht "wesentlich zurückhaltender" war (S. 217). Für die letzten Jahre der Weimarer Republik konstatiert Fattmann, dass der Dachverband zu gravierenden allgemeinpolitischen Problemen nicht mehr Stellung genommen habe. So erfährt man leider nichts darüber, ob der RhB gegenüber den Präsidialregimen Papens und Schleichers auf Distanz gegangen ist und ob sich etwas über seine Einstellung zu den Plänen Papens und Gayls, die Verfassung in autoritärer Richtung zu verändern, ausmachen lässt. Im letzten Abschnitt konzentriert sich Fattmann auf die Frage nach der Haltung des RhB gegenüber der aufsteigenden NSDAP und zeigt, dass sie keineswegs einheitlich und spannungsfrei war.

Der gewählte Titel soll gleichsam eine Grundhaltung der höheren Beamten zum Ausdruck bringen: Sie fürchteten etwas zu verlieren, glaubten eine besondere, früher unangefochtene Position verteidigen zu müssen. Die Arbeit ihres Interessenverbandes war darauf ausgerichtet, auf den von Fattmann bestätigten ökonomischen und sozialen Niedergang aufmerksam zu machen und ihm entgegenzuwirken, ohne indes wesentliche Erfolge erzielen zu können. Der politische Einfluss der höheren Beamtenschaft als Gruppe wird von Fattmann als gering bewertet. Abschließend stellt er die These auf, die mit der Einebnung der vorher überdurchschnittlichen Lebenschancen verbundene Frustration habe sicher bei manchen Betroffenen die Anfälligkeit für die nationalsozialistischen Ideologieangebote erhöht, bei einer größeren Zahl aber eher einen "eskapistischen Rückzug" aus der Politik gefördert.

Ernst Laubach, Münster i.W.





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