ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie im 19. Jahrhundert als Diskurs und Praxis (=Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 176), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, 416 S., geb., 46 EUR.

Die Habilitationsschrift von Peter Becker verknüpft die Dekonstruktion des Selbstbildes der Moderne als humanitärer Fortschritt im Zeichen von Vernunft, Rationalität und Reflexivität mit der sprachwissenschaftlichen Wende ("linguistic turn") in der Historiographie. Das zentrale Anliegen der Studie ist es, jene der Reflexion nicht zugänglichen, also vorbewussten und kollektiven "Erzählmuster" aufzufinden, welche den Diskurs über die Ursachen von Kriminalität strukturierten und der Ausgrenzung der Kriminellen aus der Welt des Bürgers dienten. Diesem "postmodernen" Ansatz entspricht eine zweite Denkfigur: Wissen und Macht werden als so eng miteinander verknüpft gedacht, dass in der Erforschung von Diskursen, wie sie von den Wissenschaften hervorgebracht werden, die Erforschung des Wesens der Moderne schlechthin gesehen wird.

Die Kriminologen des 19. Jahrhunderts verfügten, so die Kernthese, über "zwei Möglichkeiten, sich die Genese einer kriminellen Persönlichkeit vorzustellen" (S. 365), beiden gemein war, dass sie den Kriminellen als negatives Spiegelbild des Bürgers konstituierten und ihn mit einer radikalen Sprache der Vernichtung bedrohten: Kriminalität galt entweder als selbstverschuldete "Verderbnis" oder als krankhafte "Entartung". Vor dem Hintergrund des aufklärerischen Menschenbildes vom vernunftbegabten und willensfähigen, jedoch ständig gefährdeten Menschen, strukturierten die Kriminologen in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts ihre "Erzählung" nach dem Muster des "gefallenen Menschen". Zwar durch soziale Notlagen und schlechtes Beispiel in Versuchung geführt, entscheidet er sich trotzdem freiwillig für die "Verderbnis", indem er eine verkehrte Gesinnung annimmt. Es handelte sich um einen verweltlichten Sündenfall. Der Gegenpart des Sünders war nicht länger Gott, sondern die idealisierte bürgerliche Ordnung, die sich um die Werte von Sittlichkeit und Fleiß, Gemeinsinn und Mäßigung drehte. Als Experten, die ihre Autorität aus der Praxis der Strafverfolgung bezogen, dominierten Polizisten und Untersuchungsrichter den kriminologischen Diskurs. In ihren "praktischen Blick" fiel vor allem die gewerbsmäßige Eigentumskriminalität von Gaunern. Diese Betrüger zu überführen, ihre wahre Identität hinter den Schleiern der von ihnen angenommenen falschen Identitäten zu enttarnen, bildete ihr Hauptanliegen. Sich selbst als "personifizierten Gemeinsinn" (S. 367) setzend, erschloss sich den Praktikern der Strafverfolgung das kriminelle Böse als Missbrauch der Vernunft und der bürgerlichen Freiheiten. Dessen Wurzeln suchten sie in den Biographien und der Lebenswelt der Gauner. In der (Re-)Konstruktion der Gauner-Biographien in Büchern und Fahndungsblättern wurde die selbstverschuldete Abkehr von der Welt des Bürgers nicht erst beim ruchbar gewordenen Rechtsbruch, sondern bereits früher verortet: beim ersten Abweichen vom Sittengesetz, beim exzessiven Alkoholkonsum, beim Leben vom Betteln oder von der Prostitution. Einen liederlichen Lebenswandel begonnen zu haben, das war das eigentliche Verbrechen der Verbrecher. Ebenso wie die Kriminologen den Verbrecher als "Anti-Bürger" (S. 36) auffassten, so betrachteten sie die "Unterwelt", in welcher die Gauner angeblich lebten, als negatives Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft.

Das zweite der beiden möglichen Erzählmuster etablierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Nun dominierten Ärzte und Anthropologen den kriminologischen Diskurs. Ihr "theoretischer Blick" sah nicht mehr die Gauner, sondern ruhte auf irrationalen Gewaltverbrechen, auf Sexualstraftätern und Anthropophagen: "Dabei entdeckten sie den verhinderten Menschen, der aufgrund von Umwelt und Anlage niemals die soziale, körperliche und intellektuelle Kompetenz ausbilden konnte, die zu einer konfliktfreien Eingliederung in die Gesellschaft notwendig schien". (S. 368) Angesichts des Scheiterns der bisherigen Prävention und Kriminalitätsbekämpfung setzte sich also eine medizinische Verwissenschaftlichung des Sozialen in der Kriminologie durch. Das Bild vom degenerierten Verbrecher erschien nun plausibler als das überkommene vom "gefallenen Menschen". Nicht mehr die Prüfung der Gesinnung, sondern der Schutz der Gesellschaft vor den "entarteten" Verbrechern rückte in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Von dieser "Naturalisierung von Kriminalität" (S. 259) aus führten eine Reihe von Verbindungslinien zur Kriminalbiologie und zu dem NS-Unrechtsregime, auch wenn es sich nicht um eine geradlinige Entwicklung handelte, die "unweigerlich ihre Erfüllung finden musste" (S. 371), wie Peter Becker am Schluss seines Buches feststellt.

Der Studie liegt eigentlich ein überzeugender Ansatz zu Grunde: nämlich die Kriminologie mit ihrer Sicht auf die Ursachen von Kriminalität als Ausdruck der Verfasstheit der sie umgebenden Gesellschaft mit ihren "sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen" (S. 18) zu interpretieren, als Ausfluss von dominanten Menschenbildern und als identitätsbildenden Faktor für die bürgerliche Gesellschaft zu deuten. Die Umsetzung in eine Diskursgeschichte, welche eine modernisierte Variante der Ideengeschichte bleibt, da sie die begrenzenden und ermöglichenden Randbedingungen des Diskurses nicht systematisch und konkret erarbeitet, kann hingegen nicht überzeugen. Die Prämissen des Vorgehens werden zudem nur unvollständig dargelegt, eine Auseinandersetzung mit konkurrierenden Deutungen oder Herangehensweisen findet nicht statt, sodass das eigene Vorgehen als kaum begründungsbedürftiger, einzig richtiger Weg erscheint. Ein zweites Unbehagen entsteht, sobald festgehalten werden soll, welche Kriminologie denn nun eigentlich behandelt wird: die Kriminologie weltweit oder nur die deutschsprachige. Die verwendeten ungedruckten und gedruckten Quellen aus dem deutschen Sprachraum und Andeutungen in Nebensätzen sprechen dafür, dass es primär (oder pars pro toto?) um die deutsche und österreichische Kriminologie geht. An der Kontextualisierung, d.h. an der Behandlung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen ist das kaum zu bemerken. Dafür bleibt diese Dimension zu abstrakt, bleibt zu sehr ein letztlich geistes- oder ideengeschichtlich gewonnenes Bild vom Wesen der Moderne überhaupt, als dass ein historischer Kontext mit Erklärungskraft entstehen könnte. Die konkrete Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft wird gleichsam 1:1 mit dem aufklärerischen Menschenbild und insbesondere mit der Morallehre Kants gleichgesetzt, der Staat mit Strafrecht und Gefängnissen spielt für die Studie nur eine marginale Rolle und letztlich schwebt der kriminologische Diskurs recht frei über einer abstrakten, sich vermeintlich zur Freiheit bestimmenden bürgerlichen Gesellschaft, deren historischer Wirklichkeit eine nur geringe Relevanz eingeräumt wird.

Auch die Darstellung der inneren Entwicklung des kriminologischen Diskurses ist z.T. zu sehr vereinfacht. So bleibt es durchaus fraglich, ob irrationale Gewaltverbrecher wirklich das Gros der Aufmerksamkeit der Kriminologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts einnahmen. Die Vielstimmigkeit des kriminologischen Diskurses engt der Verfasser für seine Phrase des "verhinderten Menschen" auf die medizinischen und anthropologischen Beiträge ein. Eine von diesen Disziplinen geprägte Sichtweise war zweifelsohne ein bedeutender Teil, aber bei weitem nicht der ganze Diskurs (wenn es sich denn überhaupt um einen einzigen gehandelt hat). Gewichtige Stimmen werden nicht zu Gehör gebracht oder ohne weiteres unter das Erzählmuster vom "entarteten" Verbrecher subsummiert, wobei bedeutsame Differenzen zugunsten einer klarer gezeichneten Entwicklungslinie verschwinden. Die Schlüsselposition der "modernen Schule" der Strafrechtswissenschaften um Franz von Liszt im kriminologischen Diskurs um die Jahrhundertwende verkümmert in der Darstellung Peter Beckers zu einer Marginalie. Die Aufmerksamkeit dieser überaus wirkungsmächtigen Diskursteilnehmer war jedoch keineswegs auf irrationale Gewaltverbrecher fokussiert, ihr zentrales Anliegen war es vielmehr nach wie vor, die bürgerliche Eigentumsordnung vor gewerbsmäßigen Kriminellen, den "Armeen der Gewohnheitsverbrecher" zu schützen. Tatsächlich gingen auch sie davon aus, dass Anlage und Umwelt Kriminalität verursachten, dass es "entartete" Verbrecher gebe, und von Darwinschem Evolutionsdenken waren auch sie fasziniert. Nichtsdestotrotz sahen sie in der Masse der Rechtsbrecher keineswegs pathologische Täter, sondern zu einem Teil Gelegenheitstäter, vor allem Diebe, die durch eine (möglichst milde) Strafe abzuschrecken seien und zu einem anderen Teil Gewohnheitsverbrecher, die noch durch entsprechende Behandlung zu "bessern" seien. Allein die Gruppe der unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher war in etwa deckungsgleich mit den "verhinderten Menschen", wie sie die Mediziner und Anthropologen konstruierten. Wenn die Vielfalt des kriminologischen Diskurses im Wesentlichen auf den medizinisch-anthropologischen Teil reduziert wird, so ist es nicht verwunderlich, wenn das Ergebnis so ausfällt, dass der Diskurs quasi durchgängig medizinisch-anthropologische Bilder vom Verbrechern zeichnete.

Aller Kritik zum Trotz, bleibt dennoch der Ertrag der Analyse, die beiden prägnanten Kategorien vom "gefallenen" und vom "Verhinderten Menschen" als Wege der Moderne, sich ihrer Schattenseiten zu entledigen, durchaus bedenkenswert und anregend (auch wenn diese nur ein Teil des Spektrums abbilden). Die "Werkstatt einer Geschichte der Kriminologie" (Fritz Sack 1978) kann allerdings noch lange nicht geschlossen werden, sie ist nach wie vor wohl erst dabei, ihre Werkbänke aufzubauen.

Erik Eichholz, Hamburg










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