ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rudolf Vierhaus/Ludolf Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002,
Band 1: A – M, Band 2: N – Z, Band 3: Zeittafel – Verzeichnisse - Ausschüsse,
K.G. Saur Verlag, München 2002 und 2003, 592, 584 und 644 S., geb., Bde. 1 u.2 je 214 EUR, Bd. 3 148 EUR.

Das "Biographische Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages" wird die Arbeit vieler Zeithistoriker erheblich erleichtern. Während man bislang mühselig die einzelnen Bände von "Kürschners Volkshandbuch des Deutschen Bundestages" konsultieren musste, um die ebenso knappen wie zweifelhaften Selbstdarstellungen von Politikern der hinteren Reihe zu erhalten, liegt nun endlich ein kompaktes, zuverlässiges und ausführliches Nachschlagewerk über die Abgeordneten vor.

Das Handbuch reicht nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich deutlich über die vor kurzem publizierte Dokumentation "Volksvertretung im Wiederaufbau 1946-1961" hinaus. Selbst bei unbekannten Politikern wird vermieden, Daten nur aneinander zu reihen. Vielmehr bietet es ausformulierte Einträge, die überwiegend ähnlich aufgebaut sind oder zumindest ähnliche Schwerpunkte setzen. Die Artikel beschreiben erstens den biographischen Werdegang jenseits der Politik, also den Bildungsweg, Beruf und prägende Erlebnisse. Hervorzuheben ist dabei, dass nicht nur der Weg in den Bundestag skizziert wird, sondern zumeist auch der Werdegang nach der Abgeordnetentätigkeit. Dies gibt Anstöße für ein neues Forschungsfeld, das die bisherigen Studien über "Politik als Beruf" wenig beachtet haben.

Das Handbuch bietet zweitens Angaben zur Parteikarriere – vom Datum des Parteieintrittes bis hin zu den Parteiämtern und der Mitgliedschaft in Parteigremien. Auch dies ist besonders verdienstvoll. Denn gerade in Deutschland steht in der Forschung nach wie vor das Staatsamt im Vordergrund, während innerparteiliche Aktivitäten wenig Beachtung finden, obwohl deren Bedeutung kaum zu unterschätzen ist. Die Artikel stellen drittens ausführlich die parlamentarische Karriere dar. Dabei liefern sie über die Mandatszeit hinaus weiterführende Informationen. So nennen sie zunächst die Modalitäten des Parlamentseintrittes (Landesliste oder Name des Wahlkreises). Es folgen Hinweise auf die Ausschusstätigkeit, die Mitgliedschaft in Untersuchungsausschüssen und in Delegationen. Abgerundet werden die Einträge viertens mit Hinweisen zur Verbands- oder Vereinszugehörigkeit und auf Auszeichnungen, die sie erhielten. Da die Verflechtung von Verbänden und Politik für die Bundesrepublik bislang kaum quellenfundiert untersucht wurde, kann auch dies weitere Forschung anregen. Den Artikeln sind zudem Hinweise auf die Deposita oder Nachlässe der Politiker beigefügt. Falls vorhanden, werden ihre Veröffentlichungen und Literatur über sie genannt. Leider ist deren Ausführlichkeit in einigen Fällen etwas uneinheitlich. Ausgerechnet der Artikel über Adenauer gibt etwa keine Hinweise auf dessen Nachlass und nennt als Veröffentlichungen nur knapp Erinnerungen und Briefe. Dagegen werden bei anderen Politikern, wie etwa bei Adenauers Berater Robert Pferdmenges, zahllose Zeitungsartikel als Veröffentlichung aufgelistet.

Erwartungsgemäß weisen die Artikel je nach der parlamentarischen Bedeutung des Abgeordneten eine unterschiedliche Länge auf. Bei den Hinterbänklern verzichten die knapper gehaltenen Beiträge auf eine Würdigung oder Bewertung der politischen Arbeit. Über ihre politische Grundlinie oder ihren politischen Stil erfährt man in diesen Kurzartikeln leider nichts – selbst wenn die Abgeordneten lange dem Bundestag angehört haben. Anders fallen dagegen die umfassenden Beiträge über jene Politiker aus, die eine größere öffentliche oder innerparteiliche Bedeutung erreicht haben. Hier finden sich Hinweise auf familiäre Prägungen und Einschätzungen zu ihren politischen Stärken und Strategien. Man erfährt, welche Akzente sie setzten und welche öffentliche Reputation sie erzielten.

Als Autoren der längeren Artikel zeichnen überwiegend Historiker und Politologen. Daneben finden sich auch Beiträge von ehemaligen MdB’s - etwa aus der Feder von Gerhard Stoltenberg, Hans-Jochen Vogel oder Rita Süssmuth. Die Distanz, die die Autoren zu ihrem Gegenstand haben, reicht unterschiedlich weit. Huldvolle Würdigungen (wie über Helmut Kohl) stehen hier neben einzelnen relativ kritischen Ausführungen (wie über Adenauer). Der Duktus der Artikel ist insgesamt aber fast durchgehend neutral bis wohlwollend. Trotz der gebotenen Kürze fallen die Gründe für die Rücktritte deshalb mitunter etwas knapp aus. Die Ursachen für Möllemanns Abschied als Wirtschaftsminister werden beispielsweise nicht genannt, und bei Barzel findet sich nur der knappe Verweis "im Zusammenhang mit der Flick-Affäre".

Das Handbuch eignet sich nicht nur als Nachschlagewerk. Zumindest die längeren Artikel über die weniger bekannten Politiker ermuntern häufig dazu, in den wechselvollen Biographien des kurzen 20. Jahrhunderts zu stöbern. Das gilt nicht nur für die Abgeordneten, die vor dem Ersten Weltkrieg zur Welt kamen und bereits in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus politische Erfahrungen im weitesten Sinne sammelten. Auch die Zeit des kalten Krieges sorgte für einige kuriose Gratwanderungen in die Politik und aus ihr heraus. Man liest von dem Stasi-Mitarbeiter Karlfranz Schmidt-Wittmack (CDU), der 1954 in die DDR floh und in der Ost-CDU seine Karriere fortsetzte. Man staunt über den SPD-Abgeordneten Alfred Frenzel, der wegen Spionage für die Tschechoslowakei 15 Jahre Haft erhielt und schließlich dorthin ausgetauscht wurde. Gerade über den weiteren Werdegang von umstrittenen Parlamentariern erfährt man Interessantes. So gründete etwa Karl Wienand, der skandalumwitterte parlamentarische Geschäftsführer der SPD, nach seinem Rückzug aus dem Parlament eine Gesellschaft für plastische Chirurgie, bis er 1996 wegen seiner Stasi-Mitarbeit zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Dagegen kämpfte der wegen seiner NS-Vergangenheit zurückgetretene Theodor Oberländer bis in die Neunzigerjahre um seine Rehabilitierung.

Die beiden Bände werden durch ein ausführliches Register abgerundet. Die chronologische Zeittafel dürfte die in der letzten Zeit beliebte Erforschung von Gruppenbiographien und generationellen Prägungen erleichtern Von dem Ortsregister wird vor allem die Lokal- und Regionalgeschichte zehren, die Honoratiorennetze untersucht. Weniger bedeutsam ist das beigefügte Verzeichnis der Fraktionsvorsitzenden, Geschäftsführer und Bundestagspräsidenten, da dies bereits im "Datenhandbuch des Deutschen Bundestages" ausführlich dokumentiert ist.

Der dritte Band des Handbuches ergänzt die biographische Bestandsaufnahme durch chronologische und systematische Verzeichnisse. Der Abschnitt "Dauer der Mitgliedschaft" zeigt zunächst Rekorde: Richard Stücklen verbrachte mit 41 Jahren die längste Zeit im Bundestag, Joachim Gauck mit einem Tag die kürzeste. Wissenschaftlich interessanter dürften die Durchschnittswerte sein, die offensichtlich bei etwa sechs Jahren liegen. Gerade bei diesem Teil wäre vielleicht eine statistische Korrelation hilfreich gewesen, wie sie jedoch bereits das "Datenhandbuch des Deutschen Bundestages" bietet (Bd. 1, S. 571-583 ). Weiten Raum nimmt schließlich das "Verzeichnis der gewählten und nachgerückten Bewerber" ein, in dem die MdB nach Eintrittsdatum, Partei und Bundesland sortiert sind. Ein Verzeichnis der Bundestagsausschüsse und ihrer Mitglieder rundet den dritten Band ab.

Natürlich ist es schade, dass die Herausgeber auf eine umfassende Einleitung verzichtet haben, die vielleicht einige Erkenntnisse aus der umfangreichen Bestandsaufnahme hätte nachzeichnen können. Insgesamt ist ihr Handbuch jedoch unzweifelhaft für jeden zeitgeschichtlich Interessierten eine wichtiges und unverzichtbares Nachschlagewerk.

Frank Bösch, Bochum





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