ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Uwe Wesel, Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen, Karl Blessing Verlag, München 2002, 250 S., geb., 22.90 EUR.

Kein rundes Jubiläum; aber ein Rückblick auf historisch werdende Zeiten lohnt sich auch so: Vor 35 Jahren wurde die bundesrepublikanische Gesellschaft verändert. Zur Reform drängten vor allem die Studierenden. Einige träumten sogar von einer Revolution. Wie sie aussehen sollte, war unklar. Vielleicht ein Räte-System, eventuell verbunden mit parlamentarischen Strukturen, wie es nach Ansicht des Zeithistorikers Peter von Oertzen nach dem Ersten Weltkrieg möglich gewesen wäre, hätten nicht die bürgerlichen Kräfte – auch und gerade in der Sozialdemokratie – die Oberhand be- bzw. erhalten. Wie damals – also ein halbes Jahrhundert zuvor - waren unter den Veränderern der 60er und 70er Jahre die organisatorischen Formen umstritten. Aber deutlich waren die gemeinsamen Motive und Ziele: Emanzipation und internationale Solidarität. Marx und Engels, bisweilen auch Lenin und Mao wurden gelesen, Herbert Marcuse, Frantz Fanon, Bahman Nirumand und Johannes Agnoli, um die größten unter den Propheten zu nennen. Hinzukam die Anklage gegen die Wirtschaftswunder-Generation, die ihre Aufbauleistungen feierte und die Fragen nach der Nazizeit wegwischte. Die Konjunktur boomte über die verbrecherische Vergangenheit hinweg.

In das Jahr 68, das dem Aufbegehren den Namen gab, fallen – allein im Brennpunkt West-Berlin - der Vietnam-Kongreß, der Mordanschlag auf Rudi Dutschke, der wütende Protest gegen den Springer-Verlag, der in West-Berlin über 70% der Zeitungen herausbrachte und sie mit seinen Aversionen gegen den undankbaren Mob, die roten Terroristen, die verwöhnten Spinner, Rabauken und Schmarotzer an den Universitäten auflud, die "Schlacht am Tegeler Weg", in der 130 Polizisten und "nur" 22 Demonstranten verletzt wurden, so dass sich die pflasterstein-schleudernden Studenten zum ersten Mal als Sieger über die staatliche Gewalt feierten, und auch die Demonstrationen gegen die Okkupation der CSSR durch die Streitkräfte des Warschauer Paktes; denn moskau-hörig waren die Studenten entgegen den Diffamierungen der Springer-Presse nicht. "Geht doch rüber, wenn Euch das Grundgesetz nicht paßt!" antworteten sie aufgebrachten Passanten, die linke Demonstranten am liebsten über die Mauer geworfen hätten.

Begonnen hatten Unbehagen und Protest gegen den anhaltenden "Muff der tausend Jahre" viel früher. Die Selbstherrlichkeit und der bürokratische Irrsinn der Ordinarien, die zum Semesterende den in langen Reihen wartenden Studenten Testate erteilten und selbst ihre Reinigungskräfte zu vereidigen hatten, das KPD-Verbot und die Intellektuellen-Hetze im Adenauer-Staat, der Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD, also das obrigkeitsstaatliche Vorgehen der Sozialdemokraten gegen den eigenen, nach links driftenden Studentenverband SDS, die Notstandsgesetze, die Spiegel-Affäre, die politische Fantasielosigkeit und Phraseologie des Kalten Krieges, das glatte Fortwirken von NS-Funktionären und –Geist in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, auch an den Hochschulen, und nicht zuletzt der Vietnam-Krieg bildeten die Ingredienzen eines Aufruhrs, der eigentlich nicht mehr besonders provoziert werden mußte.

Dennoch geschahen unglaubliche Dinge, zum Beispiel in West-Berlin: 1958 erteilte die FU dem Journalisten Erich Kuby wegen einer Rede auf dem Kongreß wider die Atomrüstung ein Hausverbot. 1960 ließ der Berliner Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt aus einer Ausstellung über Judenverfolgungen in der Kongreßhalle Plakate mit Hinweisen auf die NS-Karriere des Kanzleramtsministers Globke und des Ministers Oberländer entfernen. 1962 überließ die amerikanische Schutzmacht ihre Offiziersmesse, die an den Campus der Freien Universität grenzte, Repräsentanten des Franco-Staates, die dort den 25. Jahrestag des Franco-Regimes festlich begingen. Draußen wurden protestierende Studenten und Professoren in Lastwagen der Polizei geworfen und in den Grunewald abtransportiert. 1963 entmachteten die Studierenden per Urabstimmung den ASTA unter dem Vorsitz des späteren Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen. Er hatte sich – wie sein Kompagnon Klaus-Rüdiger Landowsky nicht nur dem RCDS, dem Studentenverband der CDU, sondern auch einer schlagenden Verbindung angeschlossen, die an der FU eigentlich nichts zu suchen hatte. Der Kongo-Diktator Moise Tshombe und der Schah von Persien wurden vom Berliner Senat hofiert, und der Student Benno Ohnesorg, der mit anderen Demonstranten vor der Deutschen Oper in das Knackwurst-System der Berliner Polizei geriet, wurde vom Obermeister Karl-Heinz Kurras erschossen – am 2. Juni 1967.

Zu diesem Zeitpunkt war die Studentenschaft in einem Maß politisiert, das - von dem evangelischen Theologen Helmut Gollwitzer, dem jüdischen Religionswissenschaftler Jacob Taubes, der Philosophin Margerita von Brentano und dem Publizistik-Professor Fritz Eberhard einmal abgesehen - die der Linken zugewandten Professoren kaum noch erreichten. Koryphäen wie der Politologe Richard Löwenthal oder der Philosoph und Rektor Hans-Joachim Lieber, die das kritische Bewußtsein lange Zeit in voll besetzten Hörsälen genährt hatten, resignierten und verstanden die Welt der Studenten nicht mehr. Einige wurden gar in der von der Wirtschaft gesponserten "Notgemeinschaft für eine Freie Universität" – Nofu – aktiv.

Der frisch habilitierte Jurist Uwe Wesel kam 11. Oktober 1968 aus dem vergleichsweise ruhigen Hochschulgelände der bayrischen Hauptstadt an die FUB. Er weiß es noch genau. Sogar die Flugnummer der PANAM (746), die ihn zur Abendstunde nach Tempelhof trug, hat er behalten und im Vorwort seiner Rückschau auf die "verspielte Revolution" festgehalten. Eine Interpretation des Titels, der sich doppelsinnig von der Formulierung "angelesene" (Günter Grass) oder "dümmste" (Johannes Groß) absetzt, bietet er im Schlusskapitel an: "Diejenigen, die an die Revolution geglaubt haben, sie haben verspielt. Nicht so sehr die Revolution. Die war nicht zu gewinnen. Aber ihre Jahre und manches andere, einige sogar ihr Leben." (S.320) Enthusiasmiert und mit Oskar Negt lobt Wesel die Diskussionskultur der APO, das öffentliche teach-in, das "in höherem Maße demokratisch als die normale Diskussion in einer normalen demokratischen Gesellschaft" gewesen sei. Sogleich und wiederum mit Negt, der eine "durch Dauermobilisierung verborgene Sprach- und Kommunikationslosigkeit" registrierte, fügt er jedoch hinzu, dass die APO selbst diese Kultur und "eine große Chance" verspielt habe (S. 321f.), um abschließend wiederum ein bleibendes "Verdienst" der APO herauszustellen. Sie habe "Anstoß gegeben gegen viele Widerstände. Die gibt es heute noch, wie der Streit über Segen oder Fluch der Revolte zeigt" – eine "Art Kulturkampf" (S.325), resumiert. Wesel. Er zieht die Gleichung, dass eine verspielte Revolution "eben nur eine Revolte" sei. Diesen Begriff benutzt er denn auch meistens wie viele andere Autoren, die sich mit dieser Zeit auseinandersetzen. Warum dann der Titel? Handelt es sich um eine Projektion? Beiläufig verrät Wesel, dass ihm das Milieu (?) ein "spielerisches Verhalten" vorgeworfen habe (S.284). Immerhin engagierte er sich für die Hochschulreform mit drittelparitätisch besetzten Gremien, die vom SDS seit jeher propagiert und erst 1969 angesichts der Unruhen in Berlin und anderwärts durchgesetzt worden war (um später nach den schwer nachzuvollziehenden Auflagen des Bundesverfassungsgerichtes bundesweit revidiert zu werden).

Der Sozialdemokrat Wesel war sich nicht zu schade, im ersten FU-Rektorat nach der Reform unter dem Assistenten Rolf Kreibich von 1969 bis 1973 den Posten eines Vizepräsidenten zu übernehmen in einem, wie er sich erinnert, bis heute wohl einmaligen Team, das sich zu behaupten hatte zwischen den keineswegs nur friedfertigen Roten Zellen und der mit schwarzen Listen agierenden Nofu. Wesel nennt sie "eine Art privaten Geheimdienst für die deutsche Wirtschaft", an die sie nämlich die Namen tausender von ihr des Linksradikalismus verdächtigter Studenten weitergab, damit sie nicht eingestellt würden. Sie ergänzte damit auf privatem Sektor die staatliche Berufsverbots-Praxis im öffentlichen Dienst. Mit dem Risiko, dass ihn die eigene Partei ausschloss, hat Wesel viel getan, um den FU-Betrieb in Gang zu halten und Frieden zu stiften. Wenn er sie für vernünftig hielt, vertrat er auch die Sache der "Roten Zellen", die bald mehrere Institute der FU besetzten. Der Jurist im Präsidentenamt verstand, dass die Anglisten, die sich in der Rotzang formierten, nicht mehr nur den Beowulf rauf und runter, sondern das zeitgenössische Britannien und seine Literatur kennen lernen wollten. Und resignierend findet der Emeritus heute im Vorlesungsverzeichnis, dass das Mittelalter bei den Anglisten weiter dominiert. Auch im Mikrokosmos hat die Revolution verspielt, will uns Wesel manchmal weismachen. Dabei findet er doch selbst unter Funktionsträgern der CDU Stimmen, die den 68gern einen Modernisierungsschub zugute halten. Die Partizipationsbereitschaft in der Demokratie sei durch sie gestärkt worden.

Wesel selbst war in seiner aktiven Zeit und auch danach immer zum Gespräch bereit, wenn sich die Fronten fast aussichtslos verhärtetet hatten. Er klingelte noch nachts in der schönen Charlottenburger Altbauwohnung, in der sich die Zentrale des maoistischen KSV befand, um Vermittlungsmöglichkeiten mit den "ziemlich scharfen Gurken" auszuloten, die sich von den fröhlichen Spontis samt Dieter Kunzelmann, dem "Obermufti des Chaos", durchaus abhoben. Ihnen brachte und bringt er eher Verständnis, wo nicht Sympathie entgegen Zwar dachte er von den selbsternannten Revolutionären – zumal nach dem "Sieg" über die Polizei in der Schlacht am Tegeler Weg – "Die haben einen Knall!"; aber er spendierte ihnen mit einem Druck auf den Knopf der Musikbox die "Internationale". Von der verbiesterten und verbitterten Einstellung, mit dem die meisten seiner Kollegen das studentische Treiben in den Seminaren und auf den Straßen verfolgten, war er meilenweit entfernt. Unter den jungen Revoluzzern fühlte er sich wohl – im Hörsaal, in der Mensa oder in der Kneipe.

Die Wiedergabe der eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, die den Reiz des Buches ausmachen sollten, kommt leider zu kurz. Sie bleibt hinter oberflächlichen, die Zustände in Berkeley und Paris streifenden Rundum-Betrachtungen der Revolte zurück, an denen wohl dem Verleger mit dem Blick auf das bundesweite Publikum lag. "Genauso präzise wie amüsiert", heißt es im Klappentext , beschreibe Wesel die Ereignisse. Bisweilen kehrt er freilich die Reihenfolge um, sofern er sich nicht seitenweise dem Amüsement hingibt. Der charme-versprühenden Witzbold, der er ist, schreckt auch vor abgedroschenen Kalauern er nicht zurück. Von "Revolution ist machbar, Herr Nachbar" über Max und Moritz bis zum Wowereit-Refrain "Und das ist auch gut so!" lässt er wenig aus, auch den Klo-Spruch nicht: "Weg mit den Alpen. Wir fordern freie Sicht auf Italien!" Nach dem weit verbreiteten Slogan "Brecht dem Schütz die Gräten. Alle Macht den Räten!" sucht man allerdings vergeblich. Wesel wählt einen akademie-fernen, oft sehr simplen Duktus, der manchmal der mit Abscheu zitierten BZ, dem Berliner Ableger der Bild-Zeitung, sehr nahe kommt.(vgl. S. 40/41) Abgebrochene Sätze, Interjektionen des Seufzens und Kopfschüttelns, viel "Na ja" und "immerhin" gehören zu den Stilmitteln. Die consecutio temporum missachtet der Verfasser, der sich im lateinischen Rechtswesen wie in der Grammatik auskennt, bewusst und provokativ. Ein Lektorat täte der nächsten Ausgabe gut.

Mitunter führt ihn sein Hang zur Abstraktion und zur monokausalen Erklärung zu sehr schlichten, einsilbigen Aussagen über die Entstehung und Wirkung der sehr komplexen und schließlich explosiven Gemengelage. Aber er kommt ihm zugute, wenn der Professor uns Laien die juristischen Fallstricke erläutert, mit denen manche der Reformen zurückgezogen wurden. "Abrakadabra", lautet der kichernde Kommentar des Experten, dem selbst und gerade BVG-Sprüche zum Hochschulrecht die Sprache verschlagen. Und seine Darstellung der verheerenden Folgen des sogenannten Radikalenerlasses, den die Ministerpräsidenten der Länder im Januar 1972 unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Brandt fassten, ist treffend und erschütternd. Der Verfassungsschutz wurde bei der Überprüfung von ein bis zwei Millionen Bewerbungen für den öffentlichen Dienst eingeschaltet: eine "unerträgliche Gesinnungsschnüffelei", die Angst verbreitete und vielen Absolventen die Zukunft verstellte. Die Verfassung wurde umgangen durch das bislang juristisch irrelevante Attribut "verfassungsfeindlich" Wesel schreibt, und hier ist Schluss mit lustig!: "Jetzt gab es ohne Verbot ‘Verfassungsfeinde‘ " Brandt verniedlichte den freiheitsraubenden Beschluss später zu einem "Fehler", genauso wie der ehemalige Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz am Ostermontag 1968, als es viel zu spät war, den Polizeieinsatz gegen die Studenten vom Juni 1967 bewertet hatte. Auch Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble nannten ihr skandalumwittertes Verhalten bei der Entgegennahme von Spenden aus sinistren Quellen einen "Fehler". Immerhin, würde Wesel sagen. In der Schule gab es bei einem Fehler noch eine Zwei plus.

Trotz aller Rückschläge haben sich die Freiheitsräume, das demokratische Bewusstsein, die Abneigung gegenüber dem Obrigkeitsstaat seit den unruhigen Jahren ausgedehnt, während sich die "Bewegung" in Inititativen, Vereinen und der Grünen Partei umsetzte und auflöste. Einige der Revoluzzer haben nach dem Marsch durch die Institutionen, zu denen, als der Dialog noch möglich war, auch der Sozialdemokrat Löwenthal geraten hatte, auf Parlaments- und Regierungsbänken Platz genommen. Andere machten an den Hochschulen und in "stinkbürgerlichen" Berufen Karriere; aber vielen blieb sie versagt. Und einige drehten durch und stürzten in den RAF-Abgrund der Gewalt. Profitiert haben, das hebt Wesel gern hervor, die Frauen, sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich. Ihn ergötzen noch heute die Tomaten, die Sigrid Rüger aus Protest gegen die Chauvi-Herrschaft im SDS dem Genossen Hans-Jürgen Krahl auf einer der letzten Delegierten-Konferenzen in Frankfurt am Main an den Hals warf. Sie nannte ihn "objektiv" einen Agenten des Klassenfeindes und gab mit der Aktion den Anstoß zu den "Weiberräten", die sich in vielen Universitätsstädten der Republik bildeten.

Krahl, dem 'Robbespiere von Bockenheim‘, wie ihn Negt nannte, widmet Wesel ein wichtiges Kapitel, das andere an Akribie übertrifft. Er zeichnet den Lebensweg dieses belesenen und scharfsinnigen Studenten, der neben Rudi Dutschke die herausragende Figur unter den Utopikern der sechziger Jahre ist und – wie er – früh ausgeschaltet wurde, nicht durch ein Attentat, sondern durch einen Verkehrsunfall. Aus den Mulden des Ludendorffbundes in seiner niedersächsischen Heimat war Krahl über die Junge Union zum SDS gekommen und in Frankfurt zum revolutionären Interpreten der Kritischen Theorie aufstiegen. Er bot Adorno, bei dem er promovierte, Paroli und erläuterte einem Busfahrer den Fetischcharakter der Ware.

Johannes Wendt, Berlin








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