ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Babette Quinkert (Hrsg.), "Wir sind die Herren dieses Landes". Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, VSA-Verlag, Hamburg 2002, 255 S., kart., 20,40 EUR.

Einen bedeutsamen Brückenschlag zwischen der deutschen und russischen Historiographie stellte die wissenschaftliche Tagung zum 60. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion dar, die im Juni 2001 in Berlin-Karlshorst stattfand. Die lebhaften Debatten unter den rund achtzig Historikern aus Ost und West verdeutlichten, wie kontrovers nach wie vor ganz besonders Forschungen zum deutsch-russischen Krieg diskutiert werden. Der von der Herausgeberin Babette Quinkert vorgelegte Sammelband stellt die überarbeiteten Konferenzbeiträge der Referenten Andrej Angrick, Sabine Arnold, Bernd Bonwetsch, Dietrich Eichholtz, Michael Gander, Christian Gerlach, Gerhart Hass, Peter Jahn, Peter Klein, Leonore Krenzlin, Reinhard Otto, Pavel Polian, Hans Umbreit und Oleg W. Wischljow vor.

Der Einleitung von Hans Umbreit schließen sich Beiträge zu vier übergeordneten Themenkomplexen an:

Besonders der erste Themenkomplex nimmt Stellung zu den nach wie vor umstrittenen und oft politisch instrumentalisierten Fragen nach den Kriegszielen Deutschlands, der sog. "Präventivkriegsthese" und der Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungskrieg im Osten. Dietrich Eichholtz konstatiert in seinem Beitrag "Kriegsziele in der UdSSR" mit Recht, eine Analyse der Ostziele im Zweiten Weltkrieg müsse von einem Vergleich mit denen des Ersten Weltkrieges ausgehen.[1] Eichholtz beleuchtet die Ostziele Hitlers und der engeren NS-Führung indes nur am Rande und konzentriert sich auf die Kriegsziele der "alten" Machtelite, nach der Definition des Autors die hohe Bürokratie, Militärführung und Wirtschaftselite jenseits der NS-Kader. Im Rahmen des Sammelbandes mag dies eine zu starke Einengung sein, zumal die allgemeine Forschungsdiskussion außen vor bleibt. Hinsichtlich der Kriegszieldiskussion fokussiert Eichholtz auf die Wirtschaftselite und stellt die Frage, ob diese "die Zwangsarbeit von Ausländern auch innerhalb Deutschlands als Kriegsziel begriffen und angestrebt hat" (S. 38).

Oleg Wischljow wendet sich in seinem profunden Aufsatz "Zu militärischen Absichten und Plänen der UdSSR im Sommer 1941" gegen die Verfechter einer die deutsche Verantwortung einschränkenden Präventivkriegsthese. Der Moskauer Historiker folgt den argumentativen Linien der Verfechter jener These[2], um sie nicht nur anhand methodisch fragwürdiger Vorgehensweisen, etwa Hoffmanns falscher Zitierweise, sondern vor allem anhand russischer Quellen zu hinterfragen. So schlage der sog. "Zhukov-Plan", eine handschriftliche Notiz aus dem Generalstab der Roten Armee, zwar vor, dem sich zum Angriff formierenden Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen. Wischljow weist schließlich auf den reinen Entwurfcharakter des Papiers hin: "Wichtig dagegen ist, ob derartiges zum politischen Beschluss erhoben wird, der das im Entwurf der Notiz dargelegte Szenario zu einer operativen Handlungsanleitung macht" (S. 51).

Christian Gerlachs Beitrag zu den "Operativen Planungen der Wehrmacht für den Krieg gegen die Sowjetunion und die deutsche Vernichtungspolitik" beruht im Wesentlichen auf den Erkenntnissen seiner Studie "Kalkulierte Morde"[3] und versucht aus den "inhärenten Widersprüchen" der deutschen strategischen Planungen "eine zusätzliche Erklärung für den Vernichtungscharakter des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion" zu gewinnen (S. 55). Auch die überblicksartigen Beiträge von Gerhart Hass zur deutschen Besatzungspolitik im Leningrader Raum 1941-1944, Peter Klein zur Zivilbevölkerung Russlands und dem Krieg der Wehrmacht gegen die Partisanen oder Andrej Angrick zur Rolle der Militärverwaltung bei der Ermordung der sowjetischen Juden bieten einen guten Einstieg in die aktuelle Diskussion über die Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungskrieg im Osten. Angrick verweist mit Blick auf die lokalen und regionalen Entscheidungsträger im Bereich der Besatzungspolitik auf wesentliche Forschungsdesiderate in der "Schnittmenge zwischen Militär, Sozial- und Verbrechensgeschichtsschreibung" (S. 106). Unter Bezugnahme auf Klaus-Michael Mallmann[4] stellt Angrick fest: "Verlässt man den Superlativ der Massaker und wendet sich Massenhinrichtungen mit geringeren, aber doch in die tausende gehenden Opferzahlen zu, [...] wird die flächendeckende Involvierung des Heeres bei der Planung und Durchführung der Verbrechen noch deutlicher" (S. 113).

Reinhard Ottos verdienstvoller Beitrag zu "Sowjetischen Kriegsgefangen" fasst die große Zahl an lokalen Einzelstudien zu Kriegsgefangenenlagern zusammen und setzt sie in Bezug zu neuen Quellenfunden, deren Auswertung derzeit ein deutsch-russisches Pilotprojekt betreibt.[5] Die Systematik der Registrierung sowjetischer Kriegsgefangener im Reich könne erstmals nachvollzogen werden. Es werde außerdem deutlich, dass die Registrierung sowjetischer Kriegsgefangener einen wesentlichen Baustein innerhalb der Planung des Arbeitseinsatzes gebildet habe. Die Aufsätze Pavel Polians zur Zahl und Gruppen sowjetischer Staatsangehöriger im "Dritten Reich" sowie Michael Ganders zu den Beziehungen zwischen sowjetischen Zwangsarbeitern und deutscher Bevölkerung am Beispiel Osnabrücks vervollständigen diesen Themenkomplex.

Besonders wertvoll sind die abschließenden Beiträge von Bernd Bonwetsch, Sabine Arnold, Leonore Krenzlin und Peter Jahn, die sich mit der Rezeption des Krieges in der Sowjetunion, der DDR und der (alten) Bundesrepublik befassen und Einblicke in die divergierenden nationalgeschichtlichen Positionen liefern. Babette Quinkerts sorgfältig redigierter Band bietet, der Kürze der Beiträge geschuldet, eine überblicksartige, gut lesbare Einführung in den gesamten Themenkomplex und eröffnet neue Forschungsperspektiven.

Matthias Schröder, Münster






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