ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sabine Besenfelder, "Staatsnotwendige Wissenschaft". Die Tübinger Volkskunde in den 1930er und 1940er Jahren (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Band 94), Tübinger Vereinigung für Volkskunde, Tübingen 2002, 598 S., kart., 29,50 EUR.

Zur "staatsnotwendigen Wissenschaft" ausbauen wollte Gustav Bebermeyer das Fach, als er sich anschickte, 1933 das erste Institut für deutsche Volkskunde zu übernehmen. Eingerichtet hatte es die Universität Tübingen in vorauseilendem Gehorsam, um den neuen Machthabern politische Willfähigkeit zu demonstrieren. Auch die Besetzung mit dem Tübinger Privatdozenten und gelernten Germanisten Bebermeyer war als Signal der Folgebereitschaft gedacht, hatte das Stuttgarter Kultministerium den Parteigenossen doch gerade zum Gleichschaltungskommissar der Landesuniversität bestellt. Als Gründungsdirektor des von NS-Größen gern besuchten und von der Universität als Aushängeschild geförderten Instituts auf dem Schlossberg zeichnete Bebermeyer für die Radikalisierung und Politisierung der Volkskunde verantwortlich, deren Aufgabengebiet sich nun hin zu Sprachinsel-untersuchungen und Rassetypenforschungen verschob. Der Ordinarius unterhielt gute Kontakte sowohl zum Amt Rosenberg als auch zu den der SS angeschlossenen Forschungseinrichtungen und bot gegen Ende des Krieges zwei prominenten Ahnenerbe-Wissenschaftlern Unterschlupf an seinem Institut. Dennoch wurde Bebermeyer, der zwischenzeitlich auch das Amt des Prorektors bekleidet hatte, 1949 als "Mitläufer" entnazifiziert, lehrte seit 1955 wieder Germanistik und baute einen neuen Schülerkreis auf, bis er 1958 bei vollen Bezügen emeritiert wurde.

Erst eine Artikelserie des späteren "Konkret"-Herausgebers Herbert Gremliza zwang die Universität, sich in den 1960er-Jahren mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu beschäftigen. Als spiritus rector der nun einsetzenden Debatte kann nicht zuletzt Hermann Bausinger gelten, der 1960 den Volkskunde-Lehrstuhl übernahm und von Tübingen aus die Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte und die Erneuerung der Volkskunde als Empirische Kulturwissenschaft betrieb. Das inzwischen nach Ludwig Uhland benannte Institut war somit nicht nur die erste nationalsozialistische Volkskunde-Einrichtung, sondern übernahm auch die Federführung bei dem Nachweis, dass die völkisch-rassistische Ausrichtung des Faches während des "Dritten Reiches" mit "innerer Konsequenz" aus seiner historischen Entwicklung folgte.1

Gerade diese Pionierrolle bei der Reflexion der eigenen Fachgeschichte macht die Volkskundlerin Sabine Besenfelder nun allerdings dafür verantwortlich, dass der einschlägige Tübinger Diskurs in der Ideologiekritik der 60er- und 70er-Jahre stecken geblieben sei. Neuere, stärker historiographisch ausgerichtete Ansätze der Wissenschaftsgeschichte seien am Ludwig-Uhland-Institut "fast völlig vorübergegangen" (S. 14), moniert die Absolventin des Tübinger Seminars und macht sich daher daran, in ihrer Dissertation durch die "empirische Ermittlung historischer Fakten" (S. 16) und die Untersuchung der nationalsozialistischen Alltags- und Organisationsgeschichte ein Gegenstück zu den bislang vorliegenden Arbeiten zur Institutsgeschichte abzuliefern.

Das klingt nun arg nach Palastrevolution, und in der Tat grenzt sich Besenfelder mit ihrer dokumentarischen Zielsetzung, sine ira et studio "alle Quellen (zu) berücksichtigen, die zum Institut heute noch erhalten sind", deutlich vom theoriegeleiteten Wissenschaftsverständnis ihrer Lehrer ab – nicht ohne sich antizipierend gegen die Kritik zu verwahren, damit eine "hoch entwickelte Form des Positivismus" zu betreiben. Ganz entgehen wird die Autorin diesem Vorwurf jedoch nicht, schon allein deshalb, weil ihr erklärtes Ziel nicht die argumentierende Studie war, sondern die Fakten zusammentragende "Enzyklopädie" ( S. 16 f).

Tatsächlich ist auf diese Weise ein Werk entstanden, dessen akribisches Quellenstudium Bewunderung verdient. Besenfelder hat nicht nur die komplette Überlieferung von Institut und Universität ausgewertet sowie Einrichtungs- und Sammlungsgegenstände als Sachquellen herangezogen, sondern auch die weit verstreute Korrespondenz ehemaliger Instituts-mitarbeiter aufgespürt, die einen wichtigen Teil ihrer Belege bildet. Damit gelingt ihr ein intimer Blick in die Funktionsweise des nationalsozialistischen Vorzeige-Instituts, der sich keineswegs auf die Aktivitäten des Gründungsdirektors beschränkt, sondern die NS-Wissenschaft im Vollzug zeigt: Ein dichtgewebtes Netz von Abhängigkeiten und Loyalitäten, Seilschaften und Mentorenbeziehungen, das noch nach 1945 trug und dessen Architektur sich kaum von heutigen Universitätsstrukturen unterschied.

Überraschendstes Ergebnis des Bandes ist jedoch die starke Relativierung der Bedeutung des Tübinger Instituts. Auf der Grundlage von Veranstaltungsverzeichnissen, Hörerlisten, Forschungsarbeiten und Publikationen kommt Besenfelder zu dem Schluss, dass dem Institut zwischen Anfangsschwierigkeiten und der Kriegseinberufung seiner männlichen Mitglieder nur wenige Jahre verblieben, um in die Breite zu wirken. Nicht nur Bebermeyer selbst, sondern auch die Institutsmitarbeiter hätten wenig publiziert, keinen großen Kreis von Studenten um sich geschart und schon gar nicht eine geschlossene "Schule" initiiert. Dieser Befund steht freilich in gewissem Widerspruch zu dem an anderer Stelle vorgetragenen Plädoyer, den Wissenschaftler Bebermeyer nicht zu unterschätzen. Auch andernorts fallen Inkonsistenzen auf, nicht zufällig immer da, wo es um die Bewertung der zusammen-getragenen Materialien geht. Dies ist zum einen der nicht nur aus den Naturwissenschaften bekannten Unschärfe-Relation geschuldet – je näher man ein Objekt betrachtet, desto mehr scheinen distinkte Unterschiede sich aufzulösen. Zum anderen hängt dieser Umstand jedoch auch mit der bewussten Weigerung der Autorin zusammen, Einschätzungen vorzunehmen, die über die Rekonstruktion der Faktenebene hinausgehen.

Ein solches Vorgehen ist legititim, mag man es nun je nach Standpunkt "objektiv" oder "positivistisch" nennen. Die (vermutete) Absicht, den Lesern so ein eigenständigeres Urteil zu ermöglichen, halte ich jedoch für illusionär. Neben dem unaufhebbaren Informations-vorsprung des Autors/der Autorin kommt auch ein Buch mit enzyklopädischem Anspruch nicht um implizite Kategorien herum: Sei es durch die Auswahl der Fakten, sei es durch die Art der Präsentation. Besenfelder selbst legt nahe, ihr Buch vor allem als "Nachschlagewerk" zu benutzen. Wenn es nach mir gegangen wäre: Etwas mehr Straffung hier, stärkere Zuspitzung da, dazu noch einen Schuss Theorieanbindung und mehr Mut zur Schlussfolgerung – dann hätte ich in dem 600-seitigen Band nicht nur nachschlagen, sondern auch schmökern mögen.

Ute Planert, Tübingen



1 Vgl. Hermann Bausinger, Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse, Tübingen 1971, S. 63. Vgl. auch ders., Volksideologie und Volksforschung, in: Andreas Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen 1965, S. 125-143 (erweiterte Fassung in: Zeitschrift für Volkskunde 61, 1965), S. 177-204.


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