ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Rink, Doppelte Loyalität. Fritz Rathenau als deutscher Beamter und Jude, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2002 (= Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen, Band 24) 307 S., Ln., 48 EUR.

Nein, an Veröffentlichungen zum Thema der deutsch-jüdischen Geschichte und zum Antisemitismus in Deutschland mangelt es nicht. Im Gegenteil: kaum ein Aspekt der deutschen Geschichte dürfte besser erforscht sein als dieser, ganze Bibliotheken beherbergen ausschließlich Literatur zur deutsch-jüdischen Geschichte. Zahllose Autoren haben die Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland, der so mühseligen, sich über Jahrzehnte hinziehenden Emanzipation der Juden und der endgültigen Ablehnung derselben durch die nichtjüdische deutsche Mehrheitsgesellschaft nach 1933 beschrieben. Die zentrale Erkenntnis all dieser Werke ist - und dies kann man angesichts der aktuellen Antisemitismus-Debatte in Deutschland nicht oft genug wiederholen -, dass die Schuld für das Scheitern des Versuchs der deutsch-jüdischen Symbiose einzig und allein der nichtjüdischen deutschen Mehrheitsgesellschaft anzulasten ist. Der Antisemitismus war nie und ist nie das Problem der Juden.

In diesem Sinne ist auch die von Thomas Rink vorgelegte Biographie Fritz Rathenaus (1871-1949) als eine einzige Anklageschrift zu lesen. Im Zentrum der Arbeit steht das Problem der doppelten Loyalität als Deutscher und Jude, welches sich wie ein roter Faden durch die gesamte Biographie Rathenaus zog. Als Spross der berühmten großbürgerlichen jüdischen Familie Rathenau - sein Onkel Emil war Gründer der AEG und sein Vetter Walter Außenminister in der Weimarer Republik - wurde Fritz Rathenau schon früh durch das in der Familie vorherrschende Verständnis von einer "modernen jüdischen Identität" geprägt. Diese zeichnete sich vor allem dadurch aus, sich als deutscher Patriot zu empfinden, ohne dabei jedoch die jüdische Identität vollständig preiszugeben, wie es z. B. die vielen Konvertiten taten. Diese doppelte Identität prägte sein Leben bis zum Jahr 1935, als er von den Nationalsozialisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Die Entlassung bildete den zentralen Bruch der Biographie Rathenaus, der sich danach ausschließlich als Jude definierte.

Es ist spannend zu lesen, wie Rink anhand des Vergleichs der von Rathenau seit 1940 verfassten autobiographischen Erinnerungen mit anderen Quellen die "Lebenslügen" Rathenaus herausarbeitet. In seinen Erinnerungen beschreibt Rathenau seinen Lebenslauf als "Erfolgsstory" eines nationalkonservativen deutschen Beamten und Juden, der in seiner gesamten beruflichen Laufbahn nie direkt mit Antisemitismus konfrontiert worden sei. Rink dagegen gelingt es nachzuweisen, dass Rathenau sowohl während des Studiums der Rechtswissenschaften als auch in den verschiedenen Stationen seiner Beamtenkarriere Opfer von Antisemitismus war. So war ihm durch die im Kaiserreich betriebene informelle Zurücksetzung von Juden im Beamtenapparat eine Karriere in höheren Staatsdienst oder im Verwaltungsdienst faktisch unmöglich. Des weiteren wurde eine Beförderung mehrfach mit dem Hinweis auf seine jüdische Herkunft abgelehnt.

Wie brüchig und stets gefährdet Rathenaus Doppelidentität insbesondere während der Weimarer Republik war, wird auch durch seine Mitgliedschaft in der Deutschen Volkspartei (DVP) deutlich. Schon 1919 hatte ihm die Korrespondenz mit Adalbert Düringer, einem Mitglied und Reichstagsabgeordneten der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) deutlich gemacht, dass es für einen nationalkonservativen Juden wie ihn keinen Platz in der antisemitischen DNVP gab. 1926 trat er dann der DVP bei, die er jedoch schon 1931 wieder verließ, nachdem diese Partei sich in zunehmendem Maße radikalisiert hatte und mit der Annäherung an die Harzburger Front die Grenze dessen überschritten hatte, was Rathenau als konservativer Jude mitzutragen bereit war.

Schließlich schildert der Autor, in welch starkem Maße Rathenau bereit war, seine deutsche Loyalität zu "beweisen". Er entwickelte ein Verhalten, das darum bemüht war, möglichst nicht aufzufallen und übernahm zum Teil antisemitische Stereotype. Letzteres wird besonders deutlich durch Rathenaus Tätigkeit als Referent für Minderheitenfragen im preußischen Innenministerium seit 1920. In dieser Funktion war er außer für die polnische Minderheit in Deutschland auch für die Ostjuden zuständig. Als deutscher Jude stand er den aus Osteuropa einwandernden Juden äußerst ablehnend gegenüber und wies ihnen, ein typisches antisemitisches Argument übernehmend, z. B. die Verantwortung für das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland zu. Rink schreibt zusammenfassend (S. 148), Rathenau habe ebenso wie die verantwortlichen Minister und Ministerialbeamten antisemitische Forderungen in staatliche Politik umgesetzt.

Ebenso gut wie die Entlarvung der "Lebenslügen" Rathenaus gelingt dem Autor die Beschreibung des preußischen Beamten Rathenau. Dieser habe durch sein Studium und seine verschiedenen Posten im Beamtenapparat die politischen Werte des preußischen Beamten verinnerlicht und sei geradezu ein Prototyp eines solchen Beamten gewesen. Er habe sich einer autoritären Staatsautorität verpflichtet gefühlt und eben nicht der demokratischen Verfassung der Weimarer Republik. Das erkläre sowohl sein Verhalten während das Kapp-Putsches im Jahre 1920, als er jenen als übergeordnete Autorität anerkannte, als auch seine grundsätzliche Zustimmung zu den Überlegungen der konservativen Parteien am Ende der Weimarer Republik, die Nationalsozialisten in die Regierung mit einzubeziehen. Vor allem erklärt diese autoritäre Grundorientierung jedoch auch sein Verbleiben im Staatsdienst bis 1935.

Durch die Zwangspensionierung Rathenaus setzte bei ihm zunächst nur langsam ein Umdenkungsprozess in Bezug auf sein Selbstverständnis ein. Wie Rink schreibt, verhinderte sein Pflicht- und Ehrgefühl eine frühere Auswanderung Rathenaus, doch spätestens mit dem Novemberpogrom 1938 und der Auswanderung in die Niederlande im März 1939 vollzog sich der fundamentale Wandel seines Selbstverständnisses. Nunmehr verbot es ihm seine jüdische Ehre, sich weiterhin als Deutscher zu definieren und, nach 1945, jemals wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Durch die Auswanderung in die Niederlande war er vorläufig der unmittelbaren Gefahr entgangen, doch holte sie ihn im April 1943 endgültig wieder ein, als er zusammen mit seiner Frau in Amsterdam verhaftet und nach einem kurzen Aufenthalt im Lager Westerbork in das KZ Theresienstadt deportiert wurde. In seinen autobiographischen Erinnerungen, die er nach der Befreiung aus dem KZ im Jahre 1945 niederschrieb, schrieb er nun vom "Irrwahn" der doppelten Loyalität. Das Judentum fasst er nun als eine Nation auf, und es sei unmöglich, als Jude unabhängig und loyal in einem nichtjüdischen Staat als Beamter tätig zu sein.

Der Reiz der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass der Autor anhand der autobiographischen Aufzeichnungen Rathenaus in der Lage ist, die Bedeutung der doppelten Loyalität für deutsche Juden, insbesondere für jüdische Beamte, an einem Fallbeispiel untersuchen zu können. Das Ergebnis ist zugleich deutlich und beschämend für die nichtjüdische deutsche Mehrheitsgesellschaft: So wie Rathenau sah der überwiegende Teil der überlebenden deutschen Juden keinen Raum mehr für die doppelte Loyalität als Deutsche und Juden. Gleichzeitig regt die Studie, gerade auch vor dem Hintergrund, dass nach 1945 immer und seit den 1990er Jahren immer mehr Juden in Deutschland lebten bzw. leben, zur Frage an, was den einen verbot, jemals wieder nach Deutschland zurückzukehren und den anderen, eben dies zu tun. War es, um nur eine Möglichkeit zu nennen, das unterschiedliche Maß an Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Gesellschaft, also eine andere Gewichtung der deutschen Identität? Zu solchen und anderen Fragen angeregt zu haben, ist ein großes Verdienst der vorliegenden Arbeit. Daneben ist der flüssige und gut lesbare Schreibstil von Thomas Rink hervor zu heben. Jedem, der sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte befassen möchte, sei deshalb seine Biographie Fritz Rathenaus uneingeschränkt empfohlen.

Christoph Moß, Moers








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