ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Richard F. Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880-1945. University of North Carolina Press, Chapel Hill, London 2000, 348 S., geb., 41,60 EUR.

Der deutsch-amerikanische Historiker Richard Wetzell präsentiert mit dieser Studie eine kenntnisreiche und gut recherchierte Geschichte der kriminologischen Forschung in Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des Dritten Reiches. Trotz der starken Betonung der Kriminologie des Dritten Reiches und ihrer Bedeutung für die nationalsozialistischen Vernichtungs- und Sterilisationsprogramme vermeidet Wetzell eine verkürzte, teleologische Perspektive; er konstruiert daher keine ungebrochene Entwicklung von der Rezeption der Theorien des italienischen Kriminalanthropologen Cesare Lombroso bis hin zur Sterilisierung und Euthanasie von sogenannten Gemeinschaftsunfähigen während des NS-Regimes.

Kriminologie versteht Wetzell nicht als eine in sich geschlossene Disziplin, die es mit den konzeptuellen Instrumentarien der Wissenschaftsgeschichte zu erschließen gilt. Für ihn umfaßt Kriminologie jede systematische Auseinandersetzung mit den Ursachen des Verbrechens und ist daher ein multi-disziplinäres Forschungs- und Diskursfeld. In der Auseinandersetzung mit diesem Feld präsentiert Wetzell die wesentlichen Akteure und ihre Erklärungsansätze, die er anhand von etablierten Kategorien wie Anlage und Umwelt sowie durch die Einteilung in medizinisch-biologische und soziologische Interpretationen von Kriminalität organisiert. Anhand dieser Kategorien kann er die wesentlichen Veränderungen im kriminologischen Schrifttum im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und schließlich zum Dritten Reich analysieren.

Wetzell ist durchaus offen gegenüber der Berücksichtigung von Interpretationsansätzen, die man bisher kaum als Beiträge zur Kriminologie verstanden hatte. In seiner kurzen, aber informativen Einführung zum kriminologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts werden daher auch die 'ethnographischen‘ Studien zur kriminellen Welt, die von Praktikern in Polizei- und Gerichtsbehörden sowie von Philanthropen erstellt wurden, entsprechend gewürdigt. Wetzells eigentliche Geschichte beginnt jedoch später – in den 1880er Jahren – mit der Entstehung eines spezifischen Diskursfeldes, in dem Psychiater den Ton angaben. Diese befaßten sich in der Auseinandersetzung mit der Theorie von Cesare Lombroso eigentlich mit der Frage nach den Anlagen zur Verbrechensbegehung. In dem darauf folgenden Kapitel verfolgt Wetzell die Rezeption dieser Neukonzeption des 'Verbrechermenschen‘ durch die reformorientierten Strafrechtsexperten und ihre Implikationen für die Kriminalpolitik und die pönologische Praxis.

Bereits in den beiden ersten substantiellen Kapiteln stellt Wetzell die Differenziertheit und Komplexität seiner Analyse unter Beweis. Er rekonstruiert die Logik des kriminologischen Forschens und verfolgt gleichzeitig die Rezeption der jeweiligen Argumentationsmuster in unterschiedlichen Debatten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Wetzell demonstriert hier die Breite seines Fachwissens und die synthetische Kraft seines analytischen Zugriffs. Es gelingt ihm sehr gut, weit verbreitete Vorstellungen vom reaktionären und rechts-politischen Charakter der Kriminalbiologie infrage zu stellen. So kann er etwa für die späten Jahre der Weimarer Republik unerwartete Allianzen zwischen den Nationalsozialisten und der SPD in der Frage der Sterilisierung von Verbrechern nachweisen. (S. 251)

Das komplizierte Verhältnis zwischen Kriminologie und der Kriminalpolitik des Nationalsozialismus analysiert Wetzell auf mehreren Ebenen. Er belegt die offene Ablehnung des neuen Regimes gegenüber der Kriminologie der Weimarer Republik, die von jüdischen Intellektuellen geprägt schien und die Gerichte zu allzu milden Urteilen motivierte. (S. 179ff) Gleichzeitig dokumentiert Wetzell die Strategie von Kriminologen der Weimarer Republik, die, wie Gustav Aschaffenburg, durch eine gezielte Übernahme der NS-Rhetorik die eigenen Forschungen dem neuen Regime als Beitrag zum eugenischen Projekt empfehlen wollten. Schließlich ergibt die subtile Analyse der kriminalbiologischen Forschung ein unerwartet komplexes Bild: die Eigenlogik einer methodisch-konzeptuell immer raffinierteren Forschung war mit den Erwartungen an eine praktisch nutzbare kriminalbiologische Forschung immer weniger kompatibel. Wetzell argumentiert, "that a considerable portion of mainstream criminological research in the Nazi era was not characterized by the crude genetic determinism and racism that pervaded so much of Nazi Germany." (S. 231) Es gelingt dem Autor sehr gut, die Kriminologie dieser Zeit in ihrer ambivalenten Rolle als Normalwissenschaft und als engagierter Kooperationspartner mit den Vernichtungsprojekten des NS-Regimes zu präsentieren.

Von dieser kenntnisreichen Darstellung der deutschen Kriminologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man daher in vieler Hinsicht lernen. Man erfährt viel Neues über die Beziehung zwischen Wissenschaft, Recht und Polizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, über die Akteure im kriminologischen Diskurs, sowie über die unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Verbrechers. In seiner Auseinandersetzung mit den Vorstellungen vom 'Verbrechermenschen‘ kann Wetzell allerdings mit seinem Kategorienschema nicht vollständig die Logik des kriminologischen Diskurses erschließen. Denn die soziologischen und biologischen Erklärungen funktionierten nicht antithetisch, wie Wetzell stellenweise unterstellt, sondern dialektisch. Umwelt und Anlage wirkten zusammen, um Menschen mit einer 'minderwertigen‘ Konstitution hervorzubringen, die unter bestimmten Umständen zu Straftaten besonders disponiert schienen. Die Reflexionen über die Umweltbedingungen einer kriminellen Karriere lassen sich daher kaum mit den Kategorien der heutigen Kriminalsoziologie beschreiben, selbst wenn sie sich auch mit den sozialen Hintergründen der Entstehung des Verbrechens befaßten.

Trotz dieser Einwände hat Richard Wetzell ein wichtiges Buch vorgelegt, das unser Verständnis von Recht und Kriminalpolitik des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflußt.

Peter Becker, Florenz








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