ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Werner Rammert/Gunther Knauthe/Klaus Buchenau/Florian Altenhöner (Hrsg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2001, 335 S., brosch., 35 EUR.

Identitätsgeschichte als Gegenstand der Fachwissenschaft ist eine Neuentdeckung der 1990er Jahre mit tiefen Wurzeln in den Ursprüngen der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. Auch deshalb ist die Suche nach dem "Selbst", nach der Identität der Menschen, ein vielfältig ineinander verschachteltes Graben nach der richtigen Methode. Diese Methodik soll unterhalb von - möglicherweise zu stark einengenden - theoriegeleiteten Annahmen zum Ziel führen. Dieses Ziel besteht darin, mehr über die Mechanismen der Selbstvergewisserung von Individuen und Kollektiven erfahren zu können.

Eine Methodik ohne bindende Theorie in den Sozialwissenschaften mag vielen als Sakrileg erscheinen, aber, wie es der junge Soziologe Andreas Reckwitz in seiner Einführung lapidar und paukenschlagend formuliert, "konsequenterweise hat der neuere Identitätsdiskurs es aufgegeben, allgemeine 'Theorien der Identität’ zu formulieren - es geht vielmehr darum, begriffliche Werkzeuge zu liefern, um konkrete Identitätsanalyse anzuleiten" (S. 30).

Das ist mehr an Selbstbescheidung und Freibrief zugleich, als mancher vertragen kann. Denn als Sozialhistoriker haben wir im Proseminar noch gelernt, dass es ohne erkenntnisleitende Fragestellungen, die wiederum abgesicherten sozialwissenschaftlichen Theorien folgen, nicht ginge. Ohne den Weg zu kennen, auf dem eine Analyse eingepasst werden kann, gäbe es einfach keine präsentablen Ergebnisse, so die Lehrmeinung. Wie aber ist jetzt mit einer neuen Un-Haltbarkeit umzugehen, welche postuliert, es gebe keine großen Theorien mehr, nur noch einen Weg, einen Weg ohne bindende Richtungsmarkierung?

Der Generationswechsel in den Sozialwissenschaften, den wir gegenwärtig erleben, bringt es mit sich, dass neue Lösungen gewohnte Denkrichtungen in Frage stellen und anschließend über Bord werfen können, von der Überzeugung geleitet, neue Zugangswege in den Humanwissenschaften entdeckt zu haben. Im Zentrum eines solchen Kahlschlags um Paradigmen und Methoden steht auch der "Identitätsdiskurs", der von Andreas Reckwitz in interdisziplinärer Perspektive nachgezeichnet wird. Reckwitz führt in atemberaubender Kürze in ein Themenfeld ein, das von den Kulturwissenschaftlern Rammert, Knauthe, Buchenau und Altenhöner in ihrem verdienstvollen Sammelband vorausschauend als interdisziplinäres Projekt angelegt ist und dass den sozialwissenschaftlich Interessierten, Forschern und Studierenden, gleichermaßen gemeinverständlich präsentiert wird.

Der "Identitätsdiskurs" hat, so Reckwitz, seine Wurzeln in den angloamerikanischen Sozialwissenschaften. Sie begannen gegen Ende der 1970er Jahre, Multiethnien, soziale Ungleichheit und kommunikative Vernetzungen jedweder Art nicht mehr unter dem Parsons´schen Modernisierungsparadigma der klassischen Moderne auszudeuten (diese wird von Reckwitz übrigens in die 1950er und 1960er Jahre periodisiert). Es ging somit nicht mehr um die im Grunde sehr restriktiv gehandhabte Bewertung von Angleichungsvorgängen ungleichzeitiger Modernisierungsstränge an eine paradigmatische westliche Zivilisationsavantgarde, die ganz unbescheiden von den USA repräsentiert wurde, sondern vielmehr um "die Form des Selbstverstehens, in dem sich der Einzelne als Teil des Kollektivs definiert" (S. 23).

Damit wurde etwas zum Gegenstand des Erkenntnisinteresses gemacht, das zuvor lediglich als störende Abweichung von Norm-Verhalten identifiziert werden konnte, nämlich das Selbst-Bewusstsein ganz unterschiedlicher Individuen und Gruppen abseits ihrer prospektiven "Modernisierungs"-Tauglichkeit. Das ist nichts weniger als ein grundlegender Paradigmenwechsel hin zur Demokratisierung des Erkenntniszieles gewesen: Nicht mehr die sozialwissenschaftliche Leitlinie einer normativ vorgegebenen Modernisierungsteleologie stand jetzt im Mittelpunkt der Analyse, einer Analyse, welche die Gesellschaft und ihre Individuen unter - im Grunde recht willkürlich - bestimmten Modernisierungskriterien erfassen, hierarchisieren und damit beurteilen können zu glaubte.

Vielmehr rückte jetzt die bloße Erkenntnis des Individuums und damit diejenige seiner eigenen Selbstdeutung in den Mittelpunkt des Interesses. Und in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive lohnte es dann auch, einen Schritt weiter zu gehen, um die Erkenntnis einer Vielzahl von Individuen und ihrer Selbstausdeutung im jeweiligen Kollektiv zu erfassen. Das ist deshalb noch immer neu und ungewohnt, weil die Denkrichtung sich vom Kopf des Analytikers auf die Füße der Probanden gedreht hat. Zunächst einmal gilt es überhaupt erst zu erfassen, welche Sinndeutungszusammenhänge Individuen und Kollektive haben, ehe man sie irgendwelchen strukturellen Gegebenheiten zuordnen kann. Es ist evident, dass dieser Perspektivenwechsel die gesamte Theorielandschaft der Humanwissenschaften revolutionieren kann, denn damit werden Ergebnisse zugelassen, die a priori vor jeder Klassen- oder Modernisierungstheorie stehen und damit Marx und Weber zwar nicht endgültig in den Ruhestand verabschieden, aber ihnen doch einen nachrangigen Platz in der Gesellschaftsanalyse zuweisen – und Talcott Parsons am anderen Ende eben auch.

Denn es muss ja erst noch geklärt werden, inwieweit die Vorstellungen von Klassenlagen und tendenziell unüberwindbaren kulturellen Unterschieden oder Deutungen vom eigenen Ort in der Moderne, sofern sie denn nachgewiesen werden können, tatsächlich auch zu den ökonomischen und kulturellen Trennlinien einer Gesellschaft passen, - was zugegebenermaßen noch immer nicht gar so abwegig erscheinen mag. Ist dies tatsächlich der Fall, kann etwa Bourdieus revidiertem kulturellem Klassenkonzept empirisch gesättigt zugestimmt werden. Ist dies aber nicht der Fall, brauchen wir ein neues. Von Modernisierung als dem Ende der Geschichte redet dann aber keiner mehr.

Die Sinndeutung von Individuen und Kollektiven erhält mit der Identitätsanalyse den Stellenwert einer geschichtsmächtigen Wirkungskraft zugewiesen und emanzipiert sich dadurch von ökonozentrischen, verengenden Teleologien. Arbeiter wären dann nicht mehr nur Arbeiter qua Einkommen und Väterberuf, sondern auch Identitätsträger selbst erfahrener Sinndeutungszusammenhänge, - über die wir bislang leider noch viel zu wenig wissen. Reckwitz hat den neueren Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften an drei Säulen festgemacht (S. 31ff): erstens an den kommunitaristischen Kulturtheorien, wie sie etwa von Charles Taylor entwickelt werden. Taylor versteht Akteure als "self interpreting animals" und definiert Identität demzufolge als "nichts anderes als die Art und Weise, in der sich Akteure selbst als Akteure interpretieren." Und weiter: "Diese Selbstinterpretation nimmt eine narrative Form an und ermöglicht es den Einzelnen, sich in einem symbolischen und moralischen Raum zu situieren."

Die Konsequenz aus diesem Perspektivwechsel ist so einfach wie ertragreich. Denn jetzt sollten und können wir versuchen, etwa den Brigadier Balla aus Erik Neutschs Roman "Spur der Steine", - nur um eine allgemein bekannte, wenngleich fiktive Persönlichkeit zu nennen, - als ein sich selbst interpretierendes Individuum zur Kenntnis zu nehmen, wie es die Literaturwissenschaft im Übrigen schon tun kann, und nicht mehr nur als einen privilegierten Facharbeiter mit Standard-Interessen und archetypischen Aussage-Formen in einem monokausalen Sinndeutungshorizont.

Jetzt interessieren Ballas historisch-spezifische Codes der Selbstwahrnehmung, der Repräsentation und der Sinnausdeutung, die weit mehr über ihn aussagen als das Plan-Ergebnis seiner Schicht, das seinen Tageslohn errechnete. Wie Reckwitz darlegt, wirken Taylor zufolge in der sozialen Praxis nur "diese 'substantiellen’, historisch und kulturell dichten Kollektividentitäten - und nicht etwaige hochabstrakte und kulturell vermeintlich neutrale kollektive Maximen." (S. 31) Gemeint sind hier ja wohl das Marxsche, aber auch das Webersche Klassenmodell der closed shops gesellschaftlicher Gruppen, gemeinhin: der bürgerlichen Eliten in ihrer Moderne.

Allerdings liegen die Probleme dieser hochgesteckten Erwartungshaltung hinsichtlich des Ertrags von Identitätsanalysen, zumindest für den eingefleischten Historiker, ganz ungelegen auf der Hand: Wer liefert ihm die nicht-fiktiven Quellen, die einen realen Balla beschreiben lassen können? Aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive gesehen scheint mir diese Einschränkung allerdings unterschätzt, weil nicht näher beleuchtet, denn sie vor allem limitiert den Zugangsweg des Historikers zur Identitätsanalyse - und das sehr brachial.

Reckwitz nennt neben den kommunitaristischen die post-kolonialen und feministischen Ansätze als zweiten und die Lebensstiltheorien als dritten Zugangsweg zur Identitätsanalyse. Ohne Zweifel bietet gerade der letztere empirisch gesicherte Zugangsweisen für die Konstruktion von Deutungshorizonten der Akteure, aber er scheint in Hinblick auf ihre Reichweite nicht ganz so ertragreich zu sein, wie der erstgenannte. Methodisch fußt die Identitätsanalyse, so Reckwitz (S. 30), auf drei Standbeinen: der Hermeneutik, der Historisierung und der Analyse der konkreten Lebensführung. Mit allen diesen methodischen Handreichungen kann sich der Historiker seit den 1990er Jahren ganz gut wieder anfreunden, denn sie bilden den Schlüssel zu einer Gesellschaftsgeschichte, in deren Zentrum individuelle und kollektive Sinnkonstrukte stehen.

Es ist zu fragen, wie dieses luzide, geradezu selbstverständlich daher kommende Konzept in die empirische Praxis umgesetzt wird. Dazu bietet der Sammelband zu fünf recht nebulös gehaltenen Oberthemen (Imaginationen, Gedächtnis, Praktiken, Heimat und Institutionen) insgesamt fünfzehn Beispiele aus allen Zweigen der Humanwissenschaften an in der Absicht, damit die Breite des neueren Identitätsdiskurses zu demonstrieren. Sie erstreckt sich von der "Spionitis", der Angst vor Spionen in den ersten vierzehn Jahren des 20. Jahrhunderts (Florian Altenhöner), über die Analyse von Spielfilmen der DDR (Stefan Zahlmann) bis zum türkischen Alevismus (Elise Massicard), einem schiitischen Bekenntnis, und zu den Türken in der Hip-Hop-Szene (Christoph Liell), schliesslich bis zur Identitätskonstruktion der Franzosen in Berlin (Cedric Duchene-Lacroix) und zu den "Westernizern" in Rußland (Gunther Knauthe). Diese Palette ist sehr breit und wohl aus diesem Grund fehlt ihr die methodische Klammer.

Gerade Historiker werden sich schwer tun, etwa den Beitrag von Philipp Prein über bürgerliches Reisen im 18. und 19. Jahrhundert als methodisch innovativ wahrzunehmen. Denn Prein bleibt uns auf der Fährte der Konstruktion von Fremdheit in Hamburger Reisetagebüchern des gehobenen Bildungsbürgertums schlicht die Antwort schuldig, wie und auf welchen Wegen hier Identität konstruiert wurde. Dass Reisen die Erfindung einer Gegenwelt des Alltags bedeutete (S. 53), scheint dem Rezensenten als Ergebnis zu unkonkret zu sein, um darin das Quellenstudium von potentiell Hunderten von Reisetagebüchern aus dem Hamburger Staatsarchiv zu erschöpfen.

Spannend und informativ ist insbesondere Manuel Boruttas Aufsatz über "Sexualität und Krankheit in antikatholischen Diskursen Deutschlands und Italiens" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu lesen. Der italienische Antikatholizismus schuf sich eine "positive, moderne Identität, in der sich auf hybride Weise nationale, politische, kulturelle, soziale und geschlechtliche Kategorien zu einem explosiven Gemisch verbanden" (S. 61). Das klingt zunächst ganz gut. Allerdings sollte vielleicht der Vorschlag geprüft werden, anstatt von "Identität" besser von "Identitätskonstruktion" zu sprechen, weil diese Begrifflichkeit den voluntaristischen Aspekt dieses Prozesses einer Identitätsbildung unterstreicht. Wie dem auch sei, das katholische "Selbst" kann an den Bedeutungssträngen "Feminisierung", "Sexualität" und "Pathologisierung" empirisch breit und zuweilen recht amüsant dargestellt und abgesichert werden. Hier geht es wohlgemerkt um die Fremdwahrnehmung der Antikatholiken gegenüber den Katholiken und ihrer Selbst-Ausdeutungen. Sie wurden durch die Antikatholiken uminterpretiert, ohne dabei einen gemeinsamen Sinndeutungshorizont zu verlassen.

Enttäuschend hingegen ist der Beitrag von Kiran Klaus Patel über die nationalsozialistische Identitätspolitik im Reichsarbeitsdienst. Denn der Verfasser beschränkt sich in einer Aufzählung der NS-Militär-Semantik, welche in bloßer propagandistischer Übertragung auf das halbjährige Schipp- und Lager-Leben der männlichen Jugend identitätsprägende Parallelen stiften sollte. Ob das aber auch gelang, darüber kann der Beitrag nichts sagen. Da er die Akteursebene der Individuen schlicht ausspart, bleibt sein Erkenntnisgewinn über die Identitätsanalyse gering und verharrt in der gewohnten, aber fruchtlosen Ideologie-Analyse des NS.

Dieses Auf und Ab der Methoden, der gelungenen und der weniger gelungenen Hermeneutik und Historisierung unterschiedlicher Erfahrungs- und Politikfelder, weniger allerdings der Lebensstilanalyse, belegt, inwieweit sich der Forschungsstand noch von einer Vergewisserung über die Reichweite qualitativer Methoden in den Humanwissenschaften entfernt sieht und dies ganz gewiss in der Geschichtswissenschaft zuallererst. Daran werden sich wohl noch manche Sammelbände abarbeiten und es ist zumindest ein Fortschritt, dass verschiedene Disziplinen dies künftig unter einem gemeinsamen Buchdeckel tun können. Insgesamt gesehen haben Rammert, Knauthe, Buchenau und Altenhöner mit ihrem innovativen Sammelband einen beachtenswerten Markstein der sozialwissenschaftlichen Identitätsforschung gesetzt, der durch Andreas Reckwitz´ luziden Einführungsaufsatz verständlich beschrieben worden ist. Es ist zu hoffen, dass er nicht am Wege liegen bleibt.

Georg Wagner-Kyora, Oldenburg





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