ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karin Stukenbrock, "Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der Frühen Neuzeit (1650-1800) (= MedGG-Beihefte 16), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2001, 309 S., kart., 49 EUR.

Moderne Kriminalliteratur steckt voller Details aus der forensischen Medizin und verlagert sogar zuweilen die Handlung auf den Sektionstisch eines Gerichtsmediziners. Dessen Beruf unterscheidet sich von der klassischen Detektiv- oder Polizeiarbeit nicht nur durch die naturwissenschaftliche Ausbildung, sondern mehr noch durch die Assoziationen, die seine Tätigkeit beim Leser weckt. Schließlich ist das Öffnen und Zergliedern eines toten menschlichen Körpers in den meisten Kulturen tabuisiert bzw., wie in Europa seit dem ausgehenden Mittelalter, nur partiell enttabuisiert. Anatomische Sektionen wurden damals zunächst im Einzelfall etwa zur Klärung verdächtiger Todesfälle oder für die universitäre Lehre erlaubt – sie galten als Strafe über den Tod hinaus. Einen festen Platz erhielten sie dann im Medizinstudium der frühen Neuzeit und vor allem, mit den neuen Diagnosemöglichkeiten der inneren Medizin, im 19. Jahrhundert. Aus diesem Prozess greift die Stuttgarter Dissertation von Karin Stukenbrock die Sektionen an einigen norddeutschen (protestantischen) Universitätsstädten im Zeitalter der Aufklärung heraus. Der Autorin geht es weniger um die Frage, welche Bedeutung das symbolbeladene Monopol des Sezierens für den kulturellen und sozialen Status der Schulmediziner besaß; Stukenbrocks Sozialgeschichte ist vielmehr eine Sozialgeschichte der Sezierten, die der Anatomie fast immer gegen ihren Willen dienten. Auf den Ausbau der Universitäten und medizinischen Fakultäten im 18. Jahrhundert wird nur knapp als Rahmen für einen erhöhten Bedarf an Leichnamen eingegangen; der Sektionsvorgang im anatomischen Theater tritt gegenüber dem gesellschaftlichen Umgang mit dem toten Körper in den Hintergrund.

Für ihre Analyse entwirft Stukenbrock ein Kräftefeld der "Körperpolitik" (S. 24): auf der einen Seite die nachfragenden Anatomen und Studenten, auf der anderen Seite jene Bevölkerungsgruppen, Kriminelle zumal, die in der Regel die Körper für die Sektionen zu stellen hatten. Dazwischen standen die Landesregierungen (bzw. auf lokaler Ebene die nachgeordneten Instanzen und Kirchen), die einerseits den Nutzen der Anatomie niemals in Frage stellten, andererseits Grenzen zogen und oft genug protestierenden Angehörigen der für die Anatomie bestimmten Verstorbenen entgegenkamen. Es versteht sich, dass die Akteure der "Körperpolitik" ungleich stark waren und deswegen unterschiedliche Strategien zur Verfolgung ihrer Interessen verfolgen mussten. Um dies zu verdeutlichen, werden zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen umrissen. Der wachsenden Nachfrage durch die universitäre Anatomie folgte eine Ausweitung des Kreises potenzieller Sektionskandidaten über hingerichtete "Maleficanten" hinaus auf Verstorbene in Gefängnissen und Armenanstalten, auf ledige Mütter und uneheliche Kinder. Der Umsetzung dieser Bestimmungen – d. h. der Anzeige von Todesfällen, dem Transport, der Sektion, dem Begräbnis von Leichen und der Finanzierung dieses Verfahrens – ist das längste Kapitel des Buchs gewidmet. Es beruht auf einer Fülle von sehr quellennah recherchierten Lokalstudien, deren Bündelung und Verknüpfung mit überregionalen Phänomenen (der Medizinerausbildung, der Verwissenschaftlichung der Chirurgie, der Öffentlichkeit von Sektionen) aber nicht immer gelingt. Die Zusammenhänge werden klarer sowohl in der folgenden Analyse der kollektiven Interessen der Beteiligten als auch in dem Schlusskapitel über den toten Körper im öffentlichen Diskurs. Während die Fakultäten die anatomischen Sektionen zur Schlüsselfrage ihres wissenschaftlichen Renommees stilisierten, waren sie für die Regierungen zusätzlich ein Mittel, sozial Randständige zu disziplinieren oder posthum von ihnen einen Beitrag für das allgemeine Wohl zu erhalten. Die Betroffenen selbst wiederum hofften, dem drohenden Schicksal einer Zerstückelung nach dem Tod zu entgehen, indem sie etwa das Geld für ein unverzügliches, ordentliches Begräbnis erbettelten oder Gnadengesuche stellten. Anders als in England eskalierte der Widerstand jedoch nie in gewalttätigen Protesten bei Hinrichtungen. Offenbar, so die Erklärung, vermochte die Obrigkeit in den norddeutschen Ländern Angebot und Nachfrage an Leichen für die Anatomie erfolgreich auszutarieren.

Wenn die entscheidende Frage der Studie ist, "warum die Menschen [...] ihre toten Körper nicht ’zerstückt’ wissen wollten" (S. 11), ist nicht zu verstehen, warum sie erst am Schluss einige kursorische Antworten (Abscheu, Scham, religiöse Bedenken) darauf gibt. Letztlich spricht es aber für die Arbeit, dass sie sich nicht damit begnügt, die generell ablehnende Haltung gegenüber der anatomischen Sektion zu historisieren und zu verstehen. Die erkenntnisreichsten Passagen sind jene, in denen die Autorin ihr Thema in die größeren Zusammenhänge der Sozialdisziplinierung oder der Profilierungsbemühungen einer Ärzteschaft einordnet, die damals nicht als die Autorität im Umgang mit dem menschlichen Körper anerkannt war wie heute. Eher beiläufig wird in diesem Zusammenhang die einflussreiche These Michel Foucaults widerlegt, für den öffentliche Zerstückelung als Strafmaßnahmen angelegt waren. Zumindest in den von Stukenbrock ausgewerteten Gerichtsakten werden Sektionen nicht zur Strafverschärfung angeordnet. Die Detailschärfe des Buches ist auch dort ein Vorzug, wo die Autorin nachzeichnet, wie aus dem Kreis potenzieller Anatomieobjekte die tatsächlich sezierten Leichen ausgewählt wurden. Sie stammten zwar nahezu ausschließlich aus den unteren Schichten (obwohl die rationalen Argumente der Aufklärungsmedizin für alle galten), aber ein "ehrbarer" Lebenswandel oder engagierte Angehörige konnten eine Ablieferung an die Anatomie verhindern. Mit dieser Differenzierung erweitert die Analyse den Forschungsstand; die Ergebnisse wären für andere, insbesondere für katholische Regionen, zu überprüfen.

Andreas Renner, Köln








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