ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft, Hamburg 2002, 964 S., geb., 40 EUR.

Die von Michael Wildt vorgelegte Studie über die führenden Männer des Reichssicherheitshauptamtes ist in dreifacher Hinsicht bahnbrechend: Erstens fügt sie den bislang gültigen Täterbildern ein Neues hinzu. Zweitens beantwortet sie grundsätzliche Fragen zur Vernichtungspolitik, indem sachlich-nüchtern der Weg von der Planung bis zur Durchführung der Einsatzgruppen-Morde vor Ort geschildert wird. Und drittens setzt die Arbeit hinsichtlich sprachlichem Stil und analytischer Schärfe Maßstäbe, die in den nächsten Jahren schwer zu übertreffen sein werden. Dem Buch, ein Gewinn für Forschung und Leser, merkt man die jahrelange Beschäftigung des Autors mit seinem Thema auf jeder der 964 Seiten an.

Die Arbeit, die im Oktober 2001 von der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaft der Universität Hannover als Habilitationsschrift angenommen wurde, ist in erster Linie eine kollektive Biografie: Der Autor untersucht die führenden Personen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), insgesamt 221 Lebensläufe, die er aus den ehemals im Berlin Document Center, heute im Bundesarchiv lagernden SS-Personalakten, rekonstruiert. Neben zahlreichen weiteren Quellen stützt er sich außerdem auf staatsanwaltliche Ermittlungsunterlagen der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, die in den 60er-Jahren gegen die RSHA-Angehörigen ermittelt hat. Alles in allem eine üppige Quellenlage, die Michael Wildt akribisch erarbeitet, ausgewertet und interpretiert.

Dementsprechend umfangreich ist sein Werk geworden. Im Mittelpunkt stehen die Lebensläufe der RSHA-Angehörigen: Wildt schildert ihren Weg von der oft kleinbürgerlichen Herkunft über die akademische Ausbildung bis zum mörderischen Einsatz in Polen und anschließend vor allem in der Sowjetunion. Das Täterbild, das er dabei entwirft, passt in keines der gängigen Schemata. Die Männer des RSHA waren keine Dr. Jekylls und Mr. Hydes; sie passen nicht in jenes Täterbild von der gespaltenen Persönlichkeit, das erstmals in den Nürnberger Prozessen auftauchte und seither immer wieder kolportiert worden ist. Es sind auch keine Schreibtischtäter, die, eingedeckt mit Akten und Verwaltungspapieren, den Massenmord anonym vom Büro aus betrieben. Und es sind auch keine NS-Emporkömmlinge, Menschen also, die im bürgerlichen Leben gescheitert waren und erst den Bruch von 1933 zur späten Karriere nutzen konnten. Im Gegenteil: Die Männer des RSHA standen auch in der Weimarer Republik voll im Leben. Sie gehörten zur akademischen Elite des Landes, zwei Drittel hatten studiert, insgesamt ein Drittel sogar einen Doktortitel erworben, die meisten in Rechts- und Staatswissenschaften. Vor 1933 übten sie einen angesehenen, gutbürgerlichen Beruf aus, den sie erst später, als sich unter den neuen Machthabern die Gelegenheit dazu bot, zu Gunsten der Politik aufgaben.

Politik hatte diese Männer schon immer interessiert, freilich nicht im demokratischen Sinne des verantwortungsbewussten Staatsbürgers. Politik, das war für die zu fast zwei Dritteln zwischen 1900 und 1910 geborenen, in den Wirren des Nachkriegs sozialisierten Männer, niemals das Abwägen zwischen verschiedenen Möglichkeiten, das mühsame Aushandeln eines Kompromisses. Politik war Gestaltung, ihr zu Grunde lag Macht, und diese Macht durfte rücksichtslos eingesetzt werden. Politik war, um es in den Worten Wildts zu sagen, "Arena des Willens", und der Wille dieser Männer war unbedingt und eisern. Die "Generation des Unbedingten" hatte das Fronterlebnis des maschinellen Tötens und massenhaften Sterbens in den Schützengräben nicht gemacht. Für die Kriegsjugend, den Jahrgang 1902, wie die nicht mehr zum Einsatz herangezogenen Männer bezeichnet wurden, konnte der Krieg als heroisches Erlebnis stilisiert, die soldatische Tugenden wie unbedingte Härte zur eigenen Lebensgrundlage erhoben werden. Die Realität des Krieges kannten sie nicht.

Als im September 1939 Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach, kam das Konzept Reinhard Heydrichs von der kämpfenden Verwaltung zum Tragen. Wildt macht auf das eng mit dem Kriegsbeginn verknüpfte Gründungsdatum des RSHA aufmerksam. Diese, am 27. September aus Geheimer Staatspolizei, Kriminalpolizei und Sicherheitsdienst der SS gegründete Institution, galt als weltanschauliche Speerspitze Hitler-Deutschlands. Der Auftrag war die "Reinhaltung des deutschen Volkskörpers", also die Bekämpfung und Vernichtung der Gegner der deutschen Herrenrasse, und das waren nach nationalsozialistischem Weltbild vor allem die Juden.

Polen wurde zum Experimentierfeld des Völkermordes. Hier "bewährten" sich die Männer, die bislang vor allem Schreibtischarbeit geleistet hatten, in der Praxis. Heydrichs Lakaien hatten kein Problem damit, ihren Arbeitsplatz im Büro mit dem Einsatz hinter der Wehrmachts-Front zu tauschen. Hier setzten sie um, was sie zuvor zum Teil selbst geplant hatten: Die Erschießung der "jüdisch-bolschewistischen Elite". Für Wildt ist der Einsatz in Polen der "eigentliche Gründungsakt des Reichssicherheitshauptamtes. Bereits hier zeigten sich Probleme bei der Deportationspolitik, die in der Wissenschaft inzwischen als "Chronologie des Scheiterns" (Götz Aly) bezeichnet wird. Die Antwort der RSHA-Beamten war stets radikaler, grenzüberschreitender, anti-zivilisatorischer als die vorher geplante Stufe. Schritt für Schritt näherte man sich dem Völkermord.

Wildt macht auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: Als die Einsatzgruppen dem Heer in die Sowjetunion nachfolgten, war deren Befehlslage alles andere als eindeutig. Wer zu ermorden sei, hatte Heydrich ausdrücklich den Führern der Einsatzgruppen vor Ort vorbehalten – und das waren die Männer des RSHA. Die reagierten unterschiedlich, aber in den meisten Fällen ganz im Sinne der völkisch-rassischen Ideologie. Skrupel hatten die wenigsten, aber wer sich schwer tat, den letzten Schritt zum Frauen und Kinder tötenden Massenmörder zu gehen, kam auf der Karriere-Leiter innerhalb des RSHA nicht weiter voran. Keine Frage: Spätestens seit 1941/42 war das RSHA bei der "Lösung der europäischen Judenfrage" in jeder Hinsicht federführend tätig. Und innerhalb des Führungskorps waren es die radikalen Kräfte, die bis zum Schluss in die führenden Positionen drängten und die Unbedingtheit der Institution massiv verstärkten. Der Autor macht deutlich: Zum millionenfachen Massenmord konnte es nur auf Grund der Verbindung radikaler, unbedingter Täter und entgrenzter, aus dem traditionellen administrativen Kontext herausgelöster Institution kommen. Ideologie und Diktatur, schreibt Wildt, hätten zur Vertreibung, nicht zum Mord geführt. Dieser letzte Schritt wurde durch die kämpfende Verwaltung möglich.

Politisch war die Generation des Unbedingten mit dem Zusammenbruch des NS-Staates am Ende. Die Protagonisten sahen ihre "zweite Chance", die sie trotz ihrer Verbrechen zum Teil erhielten, nicht in der Politik. Aber sie kehrten zurück in die Zivilgesellschaft, in die Wirtschaft, zur Kriminalpolizei, in die Verwaltung. Ein ruhiges Leben konnten sie seit den 60er-Jahren jedoch nicht mehr führen, denn noch immer drohte die späte Abrechnung mit ihren Taten. Wildt schildert die peinlich-verunglückte Neufassung des § 50 der Strafgesetzordnung, nach der bei einer Straftat zwischen Tätern und Gehilfen unterschieden werden sollte. Für die NS-Verbrecher und deren Verteidiger ergaben sich daraus ganz neue Perspektiven, konnten doch nun alle RSHA-Angehörigen lediglich als Gehilfen verurteilt werden, denn als Täter galten Hitler, Himmler und Heydrich. Faktisch bedeutete dies, dass durch mangelndes Fingerspitzengefühl bundesrepublikanischer Juristen geplante RSHA-Verfahren in sich zusammenfielen. Viele RSHA-Täter führten nach dem Krieg ein unbescholtenes Leben. So mancher starb erst in den 90er-Jahren, wohl behütet im Kreise seiner Angehörigen.

Christian Sonntag, Berlin





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