ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Brenner/David N. Myers (Hrsg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, C. H. Beck Verlag, München 2002, 308 S., brosch., 36,90 EUR.

Auch wenn jede Generation die Geschichte neu schreibt und neue Fragestellungen in der historischen Forschung zumeist aus veränderten Perspektiven hervorgehen, die eine junge Generation von Historikern auf die Vergangenheit wirft, geschieht es im Wissenschaftsbetrieb nur selten, dass derartige Umbrüche so vehement und öffentlich ausgetragen werden, wie der Bruch zwischen dem Mitherausgeber des hier vorgestellten Tagungsbandes, David N. Myers, und seinem Lehrer Yosef Hayim Yerushalmi. Dieser hatte mit seinem Anfang der 80er-Jahre erschienenen Band "Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis" einen innovativen Beitrag zur Geschichte der jüdischen Geschichtsschreibung geleistet und den Gegenstand gleichsam neu entdeckt. Sein Schüler Myers kritisierte nun auf der von ihm mitorganisierten Tagung Yerushalmis Gegenüberstellung von kollektivem Gedächtnis und kritischer Geschichtsschreibung als zu scharf und plädierte für eine stärkere Selbstreflexivität im jüdischen historischen Denken. Yerushalmi warf ihm daraufhin ein "verzerrtes Bild der modernen jüdischen Historiographie" (S. 90) vor und beschuldigte Myers nicht ohne persönliche Verbitterung, seine Texte und Intentionen missdeutet zu haben.

Angelegt war die Tagung als Versuch, die Generations- und Fächergrenzen zu überschreiten, und die sechs Themen, welche dort zur Diskussion standen, wurden jeweils von einem Historiker oder einer Historikerin der jüngeren Generation aus dem Bereich der jüdischen Geschichte eröffnet, von einem etablierten Fachkollegen sowie einem Vertreter aus einem, dem engeren Gebiet der jüdischen Geschichte ferner stehenden Bereich kommentiert. Mitherausgeber Michael Brenner fragt zu Beginn unter dem Titel ‚Ideologie und Objektivität’ nach dem Stand der jüdischen Geschichtsschreibung und dem Ort der jüdischen Geschichte in einem Moment, in dem die überkommenen Gewissheiten zerstoben und die einstige Erzählung "einer" jüdischen Geschichte fragwürdig geworden seien. Die Zeit der "Großnarrative" sei vorüber. Diese überlieferten großen Gesamtdarstellungen zur jüdischen Geschichte knapp und präzise charakterisierend und die aktuellen Debatten um eine positive Deutung der Diaspora diskutierend, schlägt Brenner vor, von einer jüdischen Geschichte zu vielen jüdischen Geschichten, so der prägnante Titel seines Beitrages, zu kommen.

Shmuel Feiner schließt seinen Überblick über neuere Literatur zum Verhältnis von Religion und Modernisierung mit einem Plädoyer, sorgfältig auf die Stimmen der Verzweiflung und Auflehnung von Juden im neuzeitlichen Europa zu hören und mit Empathie sowohl in die Erfahrungen der Rebellen gegen die Religion als auch in die Welt der religiösen Juden einzudringen.

Das Verhältnis von jüdischer Geschichte und Frauengeschichte problematisierend kritisiert Susannah Heschel die "Tendenz zeitgenössischer jüdischer Frauenstudien, Frauen entweder als die größten Opfer der Weltgeschichte oder als deren größte Heldinnen darzustellen" (S. 139). Nach einem kritischen Referat neuerer Studien zur jüdischen Frauen- und Geschlechtergeschichte plädiert sie für eine feministische Theorie, die das "überstrapazierte Konzept der jüdischen Assimilation" (S. 159) überwindet, sich nicht allein auf "Geschlechterfragen" beschränkt und zugleich neue historische Forschungsfelder absteckt. Jüdische Geschichte wurde bisher als Geschichte jüdischer Männer geschrieben, Aufgabe feministischer Historikerinnen, so Heschels abschließendes Plädoyer, sei es, die Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft neu zu gestalten.

Auf der Grundlage von Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen kritisiert der an der Ben-Gurion-Universität Beersheva lehrende Amnon Raz-Krakotzkin die zionistische Geschichtsschreibung und "die Konstruktion des zionistischen Selbstbildes als einer harmlosen nationalen Besiedlung" von Palästina (S. 193). Dagegen schlägt er vor, "jüdische Kollektivität in Palästina/Eretz Israel neu zu denken" (S. 184). Das Dilemma besteht seiner Ansicht nach darin, dass das Ende des jüdischen Exils zum Beginn des Exils der arabischen Palästinenser wurde. Anknüpfungspunkt eines neuen historischen Denkens könnte etwa die gemeinsame Exilerfahrung beider nach der Vertreibung aus Spanien sein. Gegen den Versuch, jüdische Geschichte als Nationalgeschichte zu schreiben, konzipiert Raz-Krakotzkin jüdische Geschichte als bi-nationale Geschichte, d. h. als die einer Minderheit in einer konkreten hegemonialen Kultur, eine Geschichte also, die nicht als autonome erörtert werden könne.

Ihren Beitrag zum letzten Kapitel des Buches, dem Holocaust, stellt Yfaat Weiss unter die unzeitgemäße und polemische Frage, ob es nicht auch zu viel Geschichte geben könne. Ihre Kritik an der deutschen Shoah-Forschung richtet sich darauf, dass sie Erinnerung und Gedächtnis gegen empirische historische Forschungen ausspiele, wobei sie vor allem Broszats "unerträgliche Dichotomie zwischen deutscher Geschichtsschreibung und jüdischer Mythologie" zurückweist (S. 245). An der israelischen Forschung wiederum kritisiert Weiss die einengende Nähe zur institutionalisierten Erinnerung sowie deren "methodologische Isolation" (S. 234). Entscheidend für die geschichtswissenschaftliche Arbeit sei die "Bewusstheit und Reflexion des Historikers" (S. 246) über seine persönlichen Motive, seinen familiären Hintergrund und kulturellen Kontext.

Nur durch Transparenz und Selbstbewusstsein also könnten die Antinomien geschichtswissenschaftlichen Arbeitens eingeholt werden, ein Gedanke mithin, an den auch Myers mit seinem Plädoyer für mehr Selbstreflexion formuliert hatte. Auch wenn Brenner selbst darauf hinweist, dass das postmoderne Denken mittlerweile der Vergangenheit angehört, ist die Sprache der Tagungsbeiträge gleichwohl teilweise von postmoderner Rhetorik geprägt. Insgesamt macht dieser Band mit seiner intergenerationellen und interdisziplinären Konzeption die Lebhaftigkeit und Intensität der Debatte um die künftige Orientierung der jüdischen Geschichtsschreibung deutlich, eine Debatte, die, wie der Konflikt zwischen Yerushalmi und Myers zeigt, nicht frei ist von persönlichen Verletzungen.

Ulrich Wyrwa, Berlin





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