ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte seit 1945, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, 255 S., kart., 22,90 EUR.

Spätestens seit Max Webers "Objektivitäts-Aufsatz" von 1904 können methodisch interessierte Historiker wissen, dass die Frage, was wie erforscht wird, abhängig ist von den jeweiligen Werturteilen der Erkenntnis suchenden Akteure selbst. Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis sollte man daher seitdem besser in Anführungsstriche setzen. So verstandene Geschichtswissenschaft bewegt sich in der Regel im Rahmen jener Werthaltungen, die das akademische Feld zulässt – oder eben auch nicht.

Genau darum geht es auch in dem neuen Buch von Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, das aus einer Sektion des Historikertags 2001 in Aachen entstanden ist und nun mit insgesamt acht Aufsätzen vorliegt. Analysiert werden dabei wertbezogene hegemoniale Interpretationsmodelle der deutschen Geschichtsschreibung der jüngeren Vergangenheit bzw. der heutigen Gegenwart. Die beiden Herausgeber schreiben dazu in der Einleitung: "Der Begriff der Meistererzählung rückt in den Blick, dass auch hinter vermeintlich objektivierbaren Aussagen der monographischen Einzelforschung übergreifende politische Grundmuster der Geschichtsdeutung stehen, die noch die disparatesten historischen Untersuchungen zu einer Gesamtsicht der Vergangenheit zusammenbinden" (S. 19).

Thematisiert werden also nicht im strengen Sinne geschichtsphilosophische Fragen oder die Kritik daran. Wesentlich konkreter geht es um die Inhalte forschungsleitender Metanarrative, bzw. um deren Herausbildung, Etablierung, Dominanz und Ablösung durch konkurrierende Modelle. Ganze Generationen von Historikern wurden und werden davon beeinflusst – manche, ohne es zu merken.

Der Einleitung folgen zwei Kapitel, wobei das erste den Titel "Historische Blickachsen" trägt: Hier finden sich Aufsätze von Martin Sabrow über "Bauformen einer nationalen Gegenerzählung in der DDR", Christoph Cornelißen schreibt über die historistische Nationalgeschichte in der Bundesrepublik der Fünfzigerjahre und Thomas Welskopp berichtet über den "deutschen Sonderweg" als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der Siebziger- und Achtzigerjahre. Abschließend stellt das zweite Kapitel über gegenwärtige Erzählperspektiven einen eher spekulativen, prognostischen Teil dar. Hier stehen Texte wie der von Konrad H. Jarausch über die aktuelle Krise der nationalen Meistererzählungen und einem Plädoyer für plurale, interdependente Narrative, neben dem von Dirk von Laak über den "Platz des Holocaust im deutschen Geschichtsbild". Außerdem fragt Hanna Schissler, ob die Geschlechtergeschichte hält, was sie versprochen hat und Matthias Middell, ob man zukünftig besser im Rahmen einer Europäischen Geschichte oder einer global history forschen sollte.

Alle Autoren versuchen dabei, sich an der in der Einleitung vorgeschlagenen Systematisierung bzw. Operationalisierung des Begriffs der Meistererzählung zu orientieren. Dieser habe eine stoffliche Seite, eine theoretisch-methodische Dimension, eine semantische Komponente und eine diskursive Grundstruktur. Wichtig sei zudem der Bezug zur sozialen Praxis und Verkörperung sozialer Macht jener Form geschichtlicher Repräsentation (S. 17 f.). Aus heuristischer Sicht erlaube der Begriff einen systematischen Vergleich von Geschichtsbildern und Geschichtssystemen, auch in transnationaler Absicht (S. 29). Insgesamt könne die Reflexion über Meistererzählungen der Geschichtswissenschaft helfen, selbstreflexiver zu werden (S. 32). All dies bedeute aber nicht, dass diese mit einem Deutungsmonopol ausgestattet sind, denn dass sie miteinander konkurrieren, sei der historische Normalfall (S. 21). Insofern – so könnte man diesen Gedanken in den ersten der drei im Folgenden exemplarisch vorgestellten Essays übersetzen – handelte es sich in der DDR um "unnormale" Geschichtswissenschaft. Denn: Sabrow weist in seinem Beitrag daraufhin, dass in der Regel Produzenten, Vermittler und Rezipienten eine gleichgewichtige Rolle spielen, was die Frage angeht, ob ein bestimmtes Narrativ zu einer Meistererzählung werden kann – in der DDR aber sei nur die Produzentenseite ausschlaggebend gewesen.

Bekanntermaßen stellte man dort dem in der Bundesrepublik auferstandenen traditionellen Historismus eine deutsche Nationalgeschichte im Geiste des historischen Materialismus entgegen (S. 34). Verbunden damit wurde die "2-Linien-Theorie", also die Einteilung des historischen Prozesses in Dichotomien wie gut/böse, fortschrittlich/reaktionär oder Sieger/Verlierer der Geschichte (S. 58). Wissenschaftliche Streitfragen wurden durch politische Entscheidungen des ZK geklärt, etwaiger Korrekturbedarf wurde von manchem Historiker prompt mit den Worten erfüllt: "Es wird passend gemacht" (S. 42).

Natürlich kam es auch in der DDR regelmäßig zu Streitigkeiten, Machtkämpfen und Verbitterung, etwa über stattgefundene Zensur (S. 46 f.). So blieben zwei der insgesamt vier Anläufe einer autoritativen Gesamtschau deutscher Geschichte, jeweils auf Beschlüsse des ZK-Plenums zurückgehend, "Meistererzählungen auf Abruf": Nur das Hochschullehrbuch der deutschen Geschichte (1952-1969, 14 Teilbände) und die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von 1966 wurden fertig gestellt.

Wohlgemerkt: Auch in der Bundesrepublik verlief es keineswegs so "herrschaftsfrei", wie etwa der gelegentlich etwas grobschlächtig gebrauchte Gegensatz von Pluralismus auf der einen, und Diktatur auf der anderen Seite nahe legen möchte. Dies macht Cornelißen über die westliche Geschichtswissenschaft der Fünfzigerjahre im Folgenden auch deutlich. So bot der wiederauferstandene Historismus einerseits die Möglichkeit, eine deutliche Abgrenzung zum Nationalsozialismus zu markieren. Andererseits wirkten in der Bundesrepublik, auch dies ja ein heftig diskutiertes Thema des vorletzten Historikertags, teilweise dieselben Protagonisten, die einst selbst Teil des Nationalsozialismus waren und sich im Rahmen des Historismus weiter an den historischen Werthorizont der Nation klammern konnten.

Cornelißens Aufsatz – der Übergang zum nächsten Beitrag könnte besser nicht sein – endet mit der allmählichen Herausbildung der westdeutschen Sozialgeschichte als vielleicht wichtigster geschichtswissenschaftlicher Innovation nach dem 2. Weltkrieg. Welskopp identifiziert ihre Meistererzählung im "deutschen Sonderweg" oder – allgemeiner gefasst – in der Modernisierungstheorie, die ihren theoretischen Standort nie habe klären können (S. 130). Einst dazu angetreten, die westdeutsche Geschichtswissenschaft offen zu politisieren, sei heute eher eine gewisse Zerfaserung des Theorems, eine Entpolitisierung und zudem eine "Staatsgetragenheit" zu konstatieren, insofern das Sonderwegs-Narrativ die "Normalisierung" des vereinten Deutschlands zum Nationalstaat historisch herleitet (S. 135).

Fazit: Der Gesamteindruck des Sammelbands lautet "Daumen hoch". Bis auf die Marginalie einiger redundanter Passagen in den oft recht lang geratenen Beiträgen bewegen sich alle auf einem theoretischen Niveau, das man nicht immer bei Historikern antreffen kann. Insgesamt kann man dem Band nur weite Verbreitung wünschen – auch wenn die Hoffnung auf ein höheres Maß an disziplinärer Selbstreflexivität reichlich prekär erscheint. Diese wäre nämlich, auch dafür ist das in dem Band präsentierte empirische Material z.T. recht eindeutiger Beleg, wahrlich eine Innovation deutscher Nationalgeschichte.

Jens Hüttmann, Lutherstadt Wittenberg





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