ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Wahrnehmung und Wertung in Europa und den USA, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, 301 S., geb., 49,90 EUR.

Die Erforschung von Wahrnehmungs- und Wertungsprozessen zählt zu den wichtigsten Aufgaben der neuen Kulturgeschichte. Wird sie im Hinblick auf besonders brisante Themen der Zeitgeschichte unternommen, kann ihr zudem eine entscheidende Bedeutung in der kritischen Analyse etablierter Geschichtsbilder zuwachsen. Der vorliegende Sammelband markiert unzweifelhaft einen derartigen Fall.

Das Vorwort und der Einleitungsbeitrag des Herausgebers geben den insgesamt 23 Länderbeiträgen als Leitperspektive die Frage danach vor, ob die von den Widerständlern "erhoffte Anerkennung als Repräsentanten des besseren Deutschland [...] wenigstens nach 1945 erfolgte [...], und ob sie dann zu einem grundsätzlich positiven Bild vom deutschen Widerstand im Ausland führte" (S. 9). In der Operationalisierung dieser Frage tritt allerdings fast eine gewisse Naivität zu Tage: Denn "es [sei] bekannt, dass historische Bilder und Darstellungen bestimmter Sachverhalte nicht immer der historischen Wirklichkeit entsprechen, dass sie gelegentlich [sic!] für politische und andere Ziele instrumentalisiert werden" (ebd.). Statt nur von ‚gelegentlicher‘ Instrumentalisierung und einer in nahezu jedem Einzelbeitrag vertretenen Auffassung "historischer Wirklichkeit", die es gegen derartigen missbräuchlichen Umgang zu verteidigen gelte, wird der Kulturhistoriker eher von einem ständigen, freilich in seiner Intensität und Direktheit sehr unterschiedlichen Gebrauch historischer Bilder ausgehen und den Konstruktcharakter jeder Wirklichkeitsdarstellung betonen.

Die einzelnen Länderbeiträge differieren sowohl in dieser methodisch-konzeptionellen Grundperspektive als auch in den Formen der praktischen Umsetzung. Durchweg im Vordergrund steht die Auswertung entsprechender Druckmedien: historisch-politische Fachtexte, Sachbücher, Zeitungen und sonstiges Massenschrifttum, gelegentlich auch Schulbücher. Wie bereits vom Herausgeber allerdings eher in einer Vollständigkeitssicht statt in Verknüpfung mit der Frage nach der Massenwirksamkeit angekündigt (S. 11), fehlen dagegen weitgehend die modernen Hör- und Bildmedien. Hinzu kommt eine gewisse Vereinfachungstendenz: Noch zu oft ist von der dänischen, US-amerikanischen usw. Sicht die Rede, statt systematisch bestimmte Wahrnehmungs- und Wertungsgruppen zu unterscheiden. Eine derartige Herangehensweise hätte allerdings andererseits unzweifelhaft den vorgegebenen knappen Seitenumfang der einzelnen Artikel gesprengt; einzufordern wären daher lediglich häufigere methodische Warnhinweise.

Was inhaltlich trotz teilweise explorativen Charakters der Studien (vgl. den selbstkritischen Hinweis des Herausgebers S. 11) eruiert werden kann, ist indessen fast durchweg beeindruckend und fortführend. Allenthalben wird deutlich, wie entscheidend die zeitgenössische Wahrnehmung insbesondere des 20. Juli von den konkreten Kriegsverhältnissen, Kriegsstrategien und politischen Zukunftsperspektiven abhängig war, danach die jeweiligen Wiederaufbaubedürfnisse zu Buche schlugen, der Kalte Krieg die Bedingungslagen erneut veränderte und schließlich der Zusammenbruch des Sowjetblocks einerseits historisch tragfähigere und dynamischere Formen des Umgangs eröffnete, andererseits wieder eigene Zwänge und Potenziale der Perzeption und Verarbeitung generierte. Die Gruppierung der Beiträge nach ihrem Verhältnis zum historischen Objekt ist vor diesem Hintergrund völlig überzeugend. Das erste Kapitel vereinigt Artikel zur "Rezeption in den ehemaligen westalliierten und mit ihnen assoziierten Staaten" (S. 25-133). Unter ihnen ragen nach Stringenz und Differenziertheit der Argumentation diejenigen zu Großbritannien (L. Kettenacker), zu Griechenland (G. Psallidas) und zu Jugoslawien (C. Bethke) hervor, ferner behandelt sind Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg, Norwegen, Dänemark und die USA, hier mit dem zutreffenden Hinweis auf die "Überlagerung und Verdunkelung" des Widerstandskomplexes "durch die ‚Amerikanisierung des Holocaust‘" seit den 1980er-Jahren (S. 123). Das zweite Kapitel ist der Sicht der ehemaligen Ostalliierten bzw. von Hitlerdeutschland bekämpften mittel- und osteuropäischen Staaten gewidmet. Der Artikel zur Sowjetunion und dem neuen Russland wie derjenige zu Polen und zu Tschechien und der Slowakei sind jeweils von einem einheimischen, entsprechend spezialisierten Historiker verfasst (S. 137-173). Leider sind die Übersetzungen gelegentlich nicht gerade optimal gelungen. Im dritten Kapitel kommen die Wahrnehmungen und Einschätzungen in den ehemals mit Hitler verbündeten Staaten Italien (in gewohnter Souveränität: J. Petersen), Finnland und Rumänien zur Sprache. Das abschließende Kapitel enthält Studien zu den neutralen (Schweiz, Schweden, Spanien, Vatikan) und "wieder gegründeten Staaten" (Österreich, Lettland, Litauen, S. 217-285). Für Lettland und Litauen, zu denen wegen der Sprachbarriere für westliche Historiker im Allgemeinen wenig Zugang besteht, müssen die (einheimischen) Autoren mehr oder weniger deutliche Nicht- und ideologisch hoch verzerrte Falschwahrnehmung des deutschen Widerstands konstatieren. Bei Spanien ergibt sich das weit gehende Fehlen einer eigenen Diskussion, sodass dort "das Bild vom deutschen Widerstand auch weiter durch ausländische Beiträge und Debatten bestimmt bleiben" wird (S. 257).

Im Gesamtergebnis steht nach diesen bahnbrechenden Analysen fest, dass "ein grundsätzlich positives Bild des deutschen Widerstandes im Ausland" kaum entstanden ist, vielmehr bis heute jeweils spezifische Rezeptions- und Aneignungsbedingungen zu sehr unterschiedlichen, eher problematisch grundierten Sichtweisen geführt haben. Erstaunen sollte diese Ergebnis freilich nicht: Auch der deutsche Widerstand selbst zeichnete sich ja durch erhebliche Ambivalenzen und Widersprüche aus, die es den Allierten bereits zur Kriegszeit schwer machten bzw. verunmöglichten, ihn in seiner potenziellen Bedeutung für den Sturz des Regimes ernst zu nehmen. Die Frage danach, ob mit diesem Sturz der Unruheherd Deutschland tatsächlich auf Dauer still gelegt gewesen wäre, oder ob nicht doch die bedingungslose Kapitulation und die grundlegende Erneuerung von dieser Kapitulation her die bessere, einzig angemessene Lösung waren, ist jedenfalls am plausibelsten nach wie vor mit dieser, der Kapitulationslösung, zu beantworten.

Wolfgang E. J. Weber, Augsburg





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