ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Ehetreiber/ Heimo Halbrainer, Bettina Ramp (Hrsg.), Der Koffer der Adele Kurzweil. Auf den Spuren einer Grazer jüdischen Familie in der Emigration. Ein Projekt der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus in Kooperation mit CLIO. Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit, CLIO, Graz 2001, 128 S., kart., 11 EUR.

In dem vorliegenden Sammelband wird eindrucksvoll am Beispiel der Adele Kurzweil beleuchtet, wie eine Lebensgeschichte, die gewaltsam beendet wurde, mit Hilfe der Inhalte des Koffers eines 17-jährigen Mädchens rekonstruiert werden kann und welche Möglichkeiten der pädagogischen und unterrichtlichen Arbeit zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Exil darin verborgen sind. Die aus Graz stammende Familie Kurzweil, die im Oktober 1938 ins Exil nach Frankreich flüchtete, weil die NS-Rassengesetze und die sozialistische Überzeugung des Rechtsanwalts Bruno Kurzweil und seine Arbeit für die Sozialdemokratische Partei in der Steiermark ihr die Existenzgrundlage im Anschluss-Österreich nahm, kam zunächst in Paris unter. Adele besuchte eine französische höhere Mädchenschule, war Mitglied der "Roten Falken" und fand während der Internierung des Vaters als "feindlicher Ausländer" Aufnahme in einem der Kinderheime, die von der OSE, einer jüdischen Wohlfahrtsorganisation, in Montmorency und anderen Orten unterhalten und von Ernst Papanek, selber Emigrant aus Wien, geleitet wurden. Mit dem Sieg der deutschen Truppen und der Besetzung von Paris und des nördlichen Teils Frankreichs setzte eine Fluchtwelle der Emigrierten ins Vichy-Frankreich ein, ohne allerdings die Kollaborationsbereitschaft mit dem NS-Regime in ihrer vollen Tragweite zu erahnen. Wobei jedoch erwähnt werden muss, dass die Einwohner der sozialistisch regierten Stadt Montauban (Südfrankreich) sich im Gegensatz zu vielen anderen gegenüber den Flüchtlingen sehr anständig verhielten und Wohnmöglichkeiten anboten. Dadurch begingen die Kurzweils, wie viele andere, den verhängnisvollen Fehler, eine Aufenthaltsgenehmigung für Montauban zu beantragen und sich damit als Juden registrieren zu lassen. Während ihrer Bemühungen um die Ausreisepapiere und Affidavits für ein Land außerhalb Europas setzten die Deportationen ein, die mit Hilfe der französischen Polizei anhand dieser Listen erfolgten. Die Familie Kurzweil wurde im August 1942 den Deutschen ausgeliefert und in Auschwitz ermordet. Zurück blieben die Koffer, die 1990 auf dem Dachboden einer Polizeistation in einem Dorf bei Montauban gefunden wurden und sich jetzt im Musée de la résistance et de la déportation in Montauban befinden. Sie waren bereits Gegenstand eines von der Geschichtslehrerin Monique Lagard initiierten Unterrichtsprojekts am dortigen Lycée Michelet, das Adele Kurzweil zwischen 1940 und 1942 besucht hatte. Das Projekt mündete in eine Ausstellung und in die Benennung des Schulhofes nach Adele Kurzweil und wurde mit dem "Prix Corrin" der Sorbonne ausgezeichnet. Durch Vermittlung von Hanna Papanek, Professorin für Anthropologie am Center für European Studies an der Harvard University, entstand der Kontakt mit Graz, wodurch sich die Idee eines Schüleraustauschs anbahnen konnte. Heimo Halbrainer, Historiker und Obmann von CLIO (Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit) und Christian Ehetreiber und Bettina Ramp von der überparteilichen ARGE (Arbeitsgemeinschaft Jugend gegen Gewalt und Rassismus) konzipierten und führten mit 16 Grazer Jugendlichen eine einjährige Projektarbeit durch, die von der Wissenschaftsabteilung des Landes Steiermark gefördert wurde und deren sichtbares Ergebnis der vorliegende Sammelband ist.

So weit die Informationen, die ich den einleitenden Texten entnommen habe, jetzt komme ich zu den vier großen Themenbereichen, die alle umfangreiche Recherchen präsentieren. Im ersten Abschnitt geht es in dem Beitrag von Heimo Halbrainer um biografische Skizzen zur Familie Kurzweil in Graz, Paris, Montauban und Auschwitz. Der dann folgende Text von Hanna Papanek, die zusammen mit Adele Kurzweil in der "Rote Falken"-Gruppe und in dem Heim in Montmorency war, reflektiert nicht nur Erinnerungen, sondern lässt die Leserin teilhaben an ihrer "unentbehrlichen, unerträglichen Forschung". Hanna Papanek schildert die Entdeckung des Fotos ihrer ermordeten Freundin in der Dokumentation von Serge Klarsfeld "Vichy-Auschwitz" im Lesesaal des Centre de Documentation Juive Contemporaine in Paris und erzählt von den historischen, politischen und persönlichen Hintergründen der Jahre 1938 bis 1941, die sie als Jugendliche im Exil in Frankreich erlebt hat. Daran schließt der Abdruck "Eine Kindheit in Paris und Montauban" an, ein Auszug aus dem Erinnerungsband von Henry O. Leichter, der ebenfalls zu der von Hanna Papanek beschriebenen Gruppe gehörte. Um das Bild abzurunden und neben die gescheiterte Flucht der Kurzweils und die gelungene Rettung der Zeitzeugin und des Zeitzeugen die Möglichkeit des Überlebens in der Illegalität in Montauban zu stellen, berichtet Bettina Ramp über das Leben von Trude Speiser, ehemals Mitarbeiterin in einem der OSE-Kinderheime. Der zweite und dritte Abschnitt wurde von den Schülerinnen und Schüler verfasst, und zwar geht es zum einen um ihre Heimatstadt Graz, über die politisch-historischen Hintergründe von 1900 bis 1938 und um jüdisches Leben, zum anderen um einen Überblick über die österreichische Emigration nach Frankreich und um die Etappen der Flucht der Familie Kurzweil im Besonderen.

Der vierte Abschnitt befasst sich mit "Flucht und Migration heute" und versucht einen Bogen zur aktuellen Situation zu schlagen, indem Christian Ehetreiber über die "Integration als Frage der Gleichberechtigung" schreibt und die Überwindung der rechtlichen Ungleichheit fordert, indem von Schülerinnen und Schülern ein Vergleich der Flüchtlingssituation in Frankreich und Österreich erfolgt sowie ein Interview mit Wolfgang Benedek, Professor am Institut für Völkerrecht an der Universität Graz, über das Asylrecht in Europa geführt wird. Der Sammelband ist reich bebildert und mit Dokumenten aus den Koffern der Familie Kurzweil aus dem Musée de la résistance et de la déportation und aus anderen Archiven sehr gut illustriert. Mit diesem Buch wird ein wichtiger Schritt unternommen, eine Leerstelle zu besetzen, denn bislang gibt es zwar eine Fülle einschlägiger Lebensgeschichten, auch einzelne Forschungsberichte über Traumatisierungen bei Kindern durch das Verfolgungsgeschehen, aber es fehlte die Auseinandersetzung mit den (verzweifelten) Überlebensstrategien, die nun über die authentischen Dokumente aus den Koffern und mit Hilfe der Erinnerungen erfolgen kann. Es ist ein pädagogisch bedeutsames Werk entstanden, das einerseits zum Lesen und Weiterforschen einlädt, das andererseits Zeugnis darüber abgibt, welche wichtigen Ergebnisse eine Projektarbeit über die NS-Zeit, über das Exil und über Auschwitz haben kann, wenn einzelne Lebensgeschichten bearbeitet und in ihrem historischen Kontext reflektiert werden. Denn, wie Hanna Papanek über die Auslieferung und Ermordung von Adele Kurzweil und ihren Eltern schreibt: "Dieses Schicksal teilten sie mit Millionen anderer Opfer: Es ist schwer an Millionen zu denken. Sich an eine oder zwei geliebte Freundinnen zu erinnern, scheint einfacher zu sein. Es ist unsäglich schwerer" (S. 54).

Aber diese Art der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist meines Erachtens vorbildlich und, wenn ein derartiges didaktisch-methodisches Konzept Schule macht, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entwicklung einer mündigen Erinnerungskultur und zur Sensibilisierung für die aktuelle Flüchtlingssituation.

Inge Hansen-Schaberg, Rotenburg





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