ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Uwe Fraunholz, Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Band 156), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, brosch., kart., 34 EUR.

Der Titel der Studie von Uwe Fraunholz, die aus seiner Dissertation hervorgegangen ist, erweckt die Erwartung, es handele sich um eine Aufarbeitung antimodernistischer Affekte gegen das Automobil, die in kulturkritischen, romantischen, klassenpolitischen oder in anderer Weise als Protesthaltung identifizierbaren Anschauungen fußen. Der Autor kündigt an, die "sozialen Begleiterscheinungen" der Automobilisierung vor der Massenmotorisierung zu untersuchen. Der aufgespannte Erwartungshorizont wird aber nicht ganz eingelöst. Hätte der Titel etwa geheißen "Tätliche Angriffe auf das Automobil und Konfliktpotenziale in der Anfangszeit der Motorisierung", wäre die übersichtliche und auch recht informative Darstellung eher zufriedenstellend.

Das erste Kapitel widmet sich zunächst der Entwicklung, Produktion und Verbreitung des Automobils in Deutschland mit Augenmerk auf einem Vergleich mit den Ländern Westeuropas und der USA. Das zweite Kapitel erörtert die Konfliktpotenziale: Die sozialdifferenzierende Wirkung des Automobils, das Problem der Sicherheitsgefährdung, das auch mit einer als sportiv auftretenden Rücksichtslosigkeit der Autofahrer zusammenhing, Geruchs-, Lärm- und Staubbelästigung sind die hauptsächlichen umweltschädigenden Wirkungen. Das Material der Untersuchung sind 372 Fälle von Angriffen auf Automobile und ihre Insassen, die aus den fünf wichtigsten Automobilzeitschriften im Zeitraum von 1902 bis 1932 zusammengetragen wurden. Die Formen der Tätlichkeiten des "Protestsamples" bestehen überwiegend im Bewerfen bzw. Bespritzen der Autos oder in Hindernissen auf der Fahrbahn. Die Auswahl erweist sich insofern als recht undankbar, als der Versuch, aus den Vorfällen eine Protesthaltung herauszulesen, nicht wirklich gelingt. Der Autor macht z.B. plausibel, dass das Automobil in ländliche Verkehrsräume abrupter eindrang, weil hier keine Gewöhnung durch öffentliche Verkehrsmittel stattgefunden hatte und keine Vertrautheit mit der Maschine in der industriellen Fertigung existierte.

Ferner argumentiert er, dass das Auto ein besonders offensichtliches Statussymbol war und sich zur Demonstration sozialer Differenzierung eignete. Wenn allerdings von der Gesamtzahl der Fäll überhaupt nur 29 Angriffe von Dorfbewohnern stammen, die die These einer Autofeindlichkeit der Landbevölkerung belegen könnten, von diesen aber die meisten noch Kinder oder Jugendliche waren, wenn ferner in nur sieben Fällen Tätlichkeiten in Zusammenhang mit politischen Demonstrationen oder auch nur Gruppenbildungen aus der Arbeiterschaft stehen, in den Angriffen also insgesamt kaum Klassengegnerschaft auszumachen ist, dann lässt sich hier nicht von einer signifikanten Protesthaltung sprechen. Das Datenmaterial ergibt eine Heterogenität an Motiven und sozialen Schichten. Die Fälle der Angriffe auf Automobile und ihre Insassen setzen sich zusammen aus 38% allgemeinen Verkehrskonflikten und Unfällen, finanziellen Interessen zu 8%, Alkoholbeteiligung zu 10%, Verbrechens- und Spionageverdacht 8%, was vor allem durch Kontrollen und Straßenbarrieren im Krieg zustande kam. Es fallen nur 20% unter die Motivlage einer allgemeinen Autofeindschaft. Zusätzlich 8% lassen sich auf Umweltbelastung und weitere 8% auf Klassengegensätze zurückführen. Damit ergeben sich in drei Jahrzehnten noch nicht einmal 100 Vorfälle von Tätlichkeiten, die als Protest gegen das Automobil deutbar wären. Auch die Akteure ergeben kein Bild einer systematisierbaren Protesthaltung, die sich von einem allgemeinen Rowdytum unterscheiden ließe. 48% sind Kinder- und Jugendliche, der Rest durchmischt: Soldaten, Wachposten, Landwirte, Kutscher und Radfahrer. Der Autor gibt selbst den Hinweis, dass Sachbeschädigungen durch Jugendliche und Kinder an anderen Gegenständen in der gleichen Intensität auftraten.

Die Fälle der Angriffe auf Automobile werden nach Regionen, Motiven, Akteuren, zeitlicher Verteilung und Adressaten geordnet und in Tabellen und Schaubildern deutlich gemacht. Die Entwicklung rechtlicher Konfliktregelungen, die Diskussion um Haftpflicht und Besteuerung werden vom Autor nachgezeichnet. Dem Leser erschließt sich das Bild einer vielschichtigen, keineswegs aber hochpolarisierten, Konfliktsituation, in der eine soziale Protesthaltung nur einer unter vielen Aspekten ist. Um die Akzeptanzproblematik von den vielfältigen Vorfällen von Verkehrskonflikten und Sachbeschädigungen abzuheben, hätte die Quellengrundlage durch andere Perspektiven ergänzt werden müssen, z.B. durch eine Berücksichtigung von Lokalzeitungen im ländlichen Raum oder Äußerungen sinnvermittelnder Institutionen wie der Kirche, der Jugend- oder der Arbeiterbewegung.

Annekatrin Gebauer, Neustadt/W.





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