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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Johannes Richter, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Disziplinierung. Zur sozialpädagogischen Bedeutung eines Perspektivwechsels, (= Res Humanae, Arbeiten für Pädagogik, Band 7), Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main etc. 2001, 173 S., kart., 35,30 EUR.

Der Begriff der "Sozialdisziplinierung" wurde von Gerhard Oestreich geprägt(1), der darin das entscheidende Charakteristikum der absolutistischen Gesellschaftsordnung erblickte. Seit den 70er-Jahren setzte sich dieses Paradigma zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Menschen in sozialen Problemlagen und staatlichen Hilfeinstanzen im wissenschaftlichen Diskurs durch. "Sozialdisziplinierung" implizierte dabei in erster Linie staatliche Kontrolle bei deviantem Verhalten, die auf eine Erziehung der Betroffenen zu Arbeitsdisziplin, Ordnung, Fleiß und Gehorsam abstellte. Unter diesem Vorzeichen untersuchte man nicht nur die Akteure der Sozialdisziplinierung, sondern machte die von ihnen verfolgte Politik gleichzeitig für die Entstehung und Verfestigung von sozialer Diskriminierung verantwortlich. Seit geraumer Zeit mehren sich die Stimmen, die das Sozialdisziplinierungskonzept als einseitig kritisieren, da es die Allmacht staatlicher Behörden überbetone und die erheblichen Handlungsspielräume der Betroffenen außer Acht lasse.

Dieser Problematik widmet der Sozialpädagoge Johannes Richter seine hier anzuzeigende Untersuchung. Wie er in seiner Einführung (Kap. 1) zum Ausdruck bringt, ist es sein Anliegen, sich "mit den historischen Forschungskonzepten zur sozialen Disziplinierung" auseinander zu setzen und diese "inhaltlich auf die sozialadministrative und fürsorgerische Bearbeitungsformen von Armut in der Frühneuzeit" zu beziehen (S. 13). Zur Begründung des gewählten Ansatzes verweist Richter u.a. darauf, dass "die Armenfürsorge der Frühneuzeit als Frühform der Sozialpädagogik gelten" könne (S. 16). Die Studie setzt ein mit einem theoretischen Teil (Kap. 2), in dem die mit der Disziplinierung in Zusammenhang stehenden Konzeptionen von Max Weber, Norbert Elias und Gerhard Oestreich komprimiert dargestellt werden. Während bei Webers Analyse der Moderne die Disziplinierung nur als ein Teilprozess innerhalb des wesentlich bedeutsameren Vorganges der Rationalisierung fungierte, habe der Begriff der Disziplinierung bei Elias keine Rolle gespielt. Elias sei vielmehr von einer anfanglosen, niemals geradlinig verlaufenden und in keiner Weise inszenierten Entwicklung vom Mittelalter zur Neuzeit ausgegangen, die er als "Prozeß der Zivilisation" bezeichnet habe. Von dem auf die Vernunft abhebenden Rationalisierungsprozess Webers und dem auf die Sittenentwicklung hinweisenden Zivilisationsprozess von Elias habe sich Oestreich mit seinem auf die Moral eingehenden Konzept der Sozialdisziplinierung abgegrenzt.

Im Anschluss an diese theoretischen Reflexionen wendet sich der Autor im Hauptkapitel der Monografie der frühneuzeitlichen Armenfürsorge zu (Kap. 3). Nachdem er einen allgemeinen Überblick über die damaligen Erscheinungsformen von Armut gegeben hat (3.1), referiert Richter anhand von drei neueren Einzelstudien die einschlägigen Befunde der historischen Forschung (3.2). Den Auftakt macht eine Studie von Thomas Fischer aus dem Jahr 1979, die die Armenfürsorge in den oberrheinischen Städten Straßburg, Basel und Freiburg im Breisgau behandelte. Fischer sei insgesamt zu der Einschätzung gelangt, dass der von kirchlicher und weltlicher Obrigkeit beabsichtigten Disziplinierung der Unterschichten nur geringe Durchschlagskraft innegewohnt habe. Das zweite herangezogene Werk wurde von Robert Jütte 1984 verfasst. Anhand der Untersuchung der Reichsstädte Köln und Frankfurt am Main habe Jütte das Konzept der Sozialdisziplinierung umfassend verwirklicht gesehen. Die dritte Studie von Martin Dinges, die 1988 erschien, analysierte die Stadtarmut in der französischen Hafenstadt Bordeaux. Dinges habe das Paradigma der Sozialdisziplinierung einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, da "sowohl die Nichtbeachtung der Lebensumstände der Armen, die Geringschätzung informeller und nicht-öffentlicher Formen der Armenhilfe als schließlich auch das auffallend nebensächliche Abhandeln der Vollzugsdefizite der obrigkeitlichen Armenfürsorge auf grundsätzliche Schwächen des Oestreichischen Konzepts zurückgeführt werden" könnten (S. 113).

Als Resultat der vorgestellten Einzelstudien kommt Richter zu dem Ergebnis, dass bei ihnen das soziologische Interpretationsmuster von Elias so gut wie keine Rolle spielte. Aus diesem Grund behandelt er im Folgenden "Das frühneuzeitliche Armenwesen aus zivilisationstheoretischer Perspektive" (3.3). Im Zuge Folge seiner "soziogenetischen" und "psychogenetischen" Betrachtungsweise thematisiert der Autor Armut und Scham in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Die Obrigkeit der Städte habe versucht, die Spannungen zwischen integrierten Stadtbewohnern und hinzugezogenen verelendeten Landflüchtigen durch eine komplexe Mischung aus Verdrängungs- und Sanktionsmaßnahmen gegenüber den "verschämten" und den "unverschämten" Armen abzubauen, ein Prozess, der fehlgeschlagen sei und den Richter als "Invisibilisierung des Elends" bezeichnet (S. 147).

Im Schlusskapitel des Werkes steht "Der sozialpädagogische Ertrag der ‚kulturellen Wende’" im Mittelpunkt (Kap. 4). Richter zieht darin weit reichende Parallelen zwischen der historischen Untersuchung der frühneuzeitlichen Armut und der so genannten "dynamischen Armutsforschung" der Gegenwart. Damals wie heute habe es eine breite Streuung der Armutsrisiken, eine Dynamik von Armutslagen, also auch Möglichkeiten zur Überwindung von Armut gegeben, und die Vorstellung von der direktiven Prägekraft sozialer Institutionen sei zu relativieren. Daraus folgert er: "Alle Übereinstimmungen zwischen historiografischer und soziologischer Entwicklung deuten darauf hin, dass wir es mit einem disziplinenübergreifenden Perspektivenwechsel zu tun haben und nicht bzw. nicht ausschließlich mit dem objektiven Erkenntnisgewinn einzelner Fachwissenschaften auf der Grundlage eines immer ausgefeilteren Methodenarsenals" (S. 153). Anschließend wird das neue Bezugsschema mit dem alten Kontrollparadigma verglichen. Als positive Impulse der neuen Perspektive würdigt der Autor, dass sie das Augenmerk verstärkt auf die Handlungsoptionen der Armutsbevölkerung lenke und damit gleichzeitig den Blick für die Wahrnehmung ihres Alltags schärfe. Dennoch plädiert er für "die bleibende Gültigkeit des Disziplinierungstheorems" (S. 160), warnt aber gleichzeitig vor ihrer Erweiterung zu einer "sozialstaatlichen Fundamentalkritik", da damit der langsame "Rückzug des Staates aus dem sozialen Sektor" unterstützt werde (S. 162).

Als Quintessenz seiner Beschäftigung mit dem Disziplinierungskonzept von Oestreich und der es in Frage stellenden Forschung empfiehlt Richter die Verfolgung eines Mittelwegs. Einen solchen habe Detlev Peukert schon vor Jahren bei seiner Untersuchung der Geschichte der deutschen Jugendfürsorge und der darin formulierten These von der "Janusköpfigkeit" der Moderne eingeschlagen. Dieser Einschätzung kann insgesamt zugestimmt werden, allerdings traten entgegen der Auffassung von Richter die Widersprüche des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) nicht "in der zweiten Hälfte der 30er Jahre auf" (S. 164, Anm. 336), sondern sie manifestierten sich in einer Notverordnung des Reichspräsidenten über Jugendwohlfahrt im November 1932, die die Entlassung Tausender Fürsorgezöglinge aus der Fürsorgeerziehung nach sich zog. Fazit: Die Verquickung von historischer, soziologischer und sozialpädagogischer Perspektive sowie von frühmittelalterlichen und aktuellen Armutsphänomen wirft mitunter Probleme bei Zugang und Verständnis des Werkes auf. Dennoch vermag es die Studie durch das Aufzeigen zahlreicher Facetten des Sozialdisziplinierungsprozesses, wissenschaftstheoretische Impulse zu vermitteln.

Matthias Willing, Bamberg




1Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 329-347.



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