ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerda Lerner, Zukunft braucht Vergangenheit. Warum Geschichte uns angeht, Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Ts. 2002, 332 S., kart., 22,90 EUR.

Gerda Lerner, derzeit emeritierte Professorin der Geschichte an der Universität von Madison/Wisconsin, USA, ist in Deutschland bekannt u.a. durch ihre Veröffentlichung "Die Entstehung des Patriarchats". Als Wissenschaftlerin fragt sie nach dem Ursprung der kollektiven Unterwerfung der Frauen unter die Männer bzw. nach dem Ausschluss der Frauen von der Gestaltung der Geschichte und von der Deutung der Vergangenheit. Frauen sind ihrer Meinung nach aktive Beteiligte an dem Prozess der Durchsetzung des Patriarchats. Den Begriff gender ("kulturelle Definition von geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern und Rollen, abhängig von einer bestimmten Gesellschaft und einer bestimmten Epoche") versteht sie als grundlegendes Ordnungsprinzip menschlicher Gesellschaft. Ihr wesentliches Postulat: "Frauenemanzipation ist ohne Kenntnis der Frauengeschichte nicht möglich."

In der Essaysammlung "Zukunft braucht Vergangenheit. Warum Geschichte uns angeht" greift Gerda Lerner diese Aussage in unterschiedlicher Weise auf, bekräftigt sie nachhaltig. Die veröffentlichten Texte stammen aus dem Zeitraum zwischen 1980 und 1996, die einzelnen Beiträge sind persönlich und authentisch, beschreiben die Entwicklung Gerda Lerners zur Feministin und Historikerin, zur feministischen Wissenschaftlerin. Eigener Lebensweg und Erfahrungen sind eng verknüpft mit ihrem beruflichem Interesse, bedingen sich gegenseitig.

Die Textsammlung gliedert sich in drei Themenbereiche: "Geschichte als Erinnerung", "Geschichte: Theorie und Praxis" und "Geschichte neu betrachten". Im ersten Teil setzt sich Gerda Lerner mit der eigenen jüdischen Identität auseinander. Geboren 1920 in Wien, aufgewachsen in einer assimilierten jüdischen Familie, entwickelt sie früh ein Bewusstsein für ungerechte geschlechtsspezifische Rollenzuordnungen. "Was aber bleibt einem Juden, einer Jüdin, wenn sie sich von der Glaubensgemeinschaft abwendet? Antisemitismus und Geschichte". Der Anschluss Österreichs an nationalsozialistische Reich bleibt nicht folgenlos: 1939 erfolgt die Emigration in die USA. Im Gegensatz zu ihr nahe stehenden Personen überlebt Gerda Lerner den Holocaust. Trotz "Leben in Übersetzung", des Verlustes der Auseinandersetzung mittels der Muttersprache, gelingt es ihr, in den USA Fuß zu fassen und sich als feministische Historikerin zu etablieren. (Aufschlussreich: Die Wiederannäherung an die Schwester, die nach Israel emigrierte, ist erst über den Austausch von Erinnerungen und Albereien in deutscher Sprache möglich.). Auch in den USA erlebt Gerda Lerner Stigmatisierung und antisemitische Angriffe, sie wird "als andere definiert". Überraschend ist ihre Ambivalenz bezüglich der eigenen Identität. Erst Umwege ermöglichen, erlauben eine Annährung. So setzte und setzt sie sich beruflich zwar mit den Kategorien "Rasse", "Klasse", "Geschlecht" auseinander. Im Mittelpunkt stand dreißig Jahre lang die Geschichte der weißen und schwarzen amerikanischen Frauen, aber z.B. nicht die Geschichte(n) jüdischer Frauen. Angesichts der direkten Erfahrung des Holocaust, der Vernichtung der europäischen Juden ist dieser Umweg nur zu verständlich, wahrscheinlich notwendig. Und dass diese Vergangenheit noch nicht abgeschlossen ist zeigt sich erschreckend typisch in einem Tischgespräch im Münchner Ratskeller während ihres ersten Deutschlandbesuchs in den 1990er-Jahren. "All das habe ich 1938 in Wien gehört. Da war es wieder, unverändert, ungebrochen, in seiner ursprünglichen Form. Gut gelaunte, witzige, freundliche Bösartigkeit. Gemütliche Grausamkeit."

Im Kapitel "Geschichte: Theorie und Praxis" steht die notwendige Verknüpfung wissenschaftlicher Analyse und praktischen Handelns im Vordergrund. Gerda Lerner analysiert u.a. die Geschichte der Antisklavereibewegung in den USA. "Von der frühen Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei bis hin zur Massenbewegung von schwarzen Männern und Frauen, StudentInnen und Pazifistinnen in den USA der 1960er-Jahre hat sich die Idee des gewaltfreien Widerstandes voll entfaltet. Die Kontinuität von Ideen überwindet Zeit und Raum. Praktische Erfahrung erneuert ständig die Ideen, die ihrerseits die Kraft haben, eine veränderte Wirklichkeit entstehen zu lassen."

Die weiblichen Mitglieder der Antisklavereibewegung wandten äußerst erfolgreich die Praxis des gewaltfreien Widerstandes an. (In der Regel wird diese Widerstandsform eher einem Mann, nämlich Ghandi zugeordnet, das zur Wahrnehmung der Geschichte der Frauen). Des Weiteren setzt Gerda Lerner sich kritisch mit den "American Values" auseinander. Dieser Begriff suggeriere, dass "alle ‚Amerikaner’ die gleichen Werte vertreten, eine Unterstellung, durch die ein kultureller, rassischer, ethnischer und sexueller Pluralismus geleugnet wird". Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Geschichte und Tradition sei notwendig, um Lösungen für die Probleme des 20. Jahrhunderts zu finden, sei es bezüglich der Geschlechterfrage, des Rassismus, der Ökologie oder der Frage nach Krieg oder Frieden. Nur so sei Zukunft überhaupt möglich.

Im letzten Teil "Geschichte neu betrachten" kritisiert Gerda Lerner die Paradigmen der klassischen Geschichtsforschung, die die Aktivitäten einer kleinen Gruppe, der Elite weißer Männer der Oberschicht, generalisieren und verallgemeinern. Eine solche Herangehensweise wird vielen andern Gruppen in der Gesellschaft nicht gerecht, schließt sie aus, unterschlägt Differenzen, was direkte praktische Auswirkungen auf den Erhalt eines ungerechten Gesellschaftssystems habe. "Wenn man ‚Unterschiede’ ignoriert, verzerrt man die Realität. Wenn man Machtverhältnisse, die auf Unterschiedlichkeiten aufbauen, ignoriert, bekräftigt man sie im Interesse derer, die die Macht innehaben." Insofern müsse differenzierter analysiert werden, müssten ergiebigere, komplexerer Begriffe entwickelt werden, mit denen sich die Wirklichkeit erfassen ließe. Gerda Lerner vertritt die Ansicht, dass es in diesem Zusammenhang es notwendig ist, Begriffe wie "Rasse", "Klasse", "Geschlecht" neu zu überdenken. "Geschlecht", "Klasse", "Rasse" sollten nicht als feststehende, separate Kategorien gedacht und bekämpft werden, sondern als ineinander verwobenes System soziokultureller Zuschreibungen, die Macht aufrechterhalten sollen. "Nicht der Unterschied ist das Problem. Das Problem ist die Dominanz, die sich zu ihrer Rechtfertigung auf konstruierte Unterschiede beruft" und "Die Systeme der Dominanz bedingen sich gegenseitig und sind deshalb nicht erfolgreich aus den Angeln zu heben, wenn sie einzeln nacheinander angegriffen werden."

Positiv und ermutigend: Gerda Lerner betont die Notwendigkeit der Verknüpfung des Engagements, der Praxis und der Theorie, um Fortschritt zu ermöglichen. "Mensch sein bedeutet zu denken und zu fühlen, die Vergangenheit gedanklich zu erfassen und sich eine Zukunft vorzustellen". In diesem Sinn geht Geschichte uns alle an. Das gilt ganz speziell für die Frauengeschichte, die nach Gerda Lerner von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung eines feministischen Bewusstseins ist. Eine lesenswerte Textsammlung, gerade auf Grund der persönlichen Bezüge Gerda Lerners.

Raphaela Kula, Bielefeld





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