ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

R. David Clay Large, Berlin. Biographie einer Stadt, aus dem engl. von Karl Heinz Siber, Verlag C. H. Beck, München 2002, 656 S. + 52 Abb., Leinen, 34,90 EUR.

Anlässlich eines Besuchs im Herbst 1989 in Berlin beschloss David Clay Large, auf die andere Seite der Mauer herüberzugehen, und hatte zu jener Zeit natürlich keine Ahnung davon, was sich dort ereignen würde. Schon lange betrachtete er Berlin als das "Epizentrum" des 20. Jahrhunderts. In Anlehnung an den Historiker Reinhard Rürup galt Berlin "als Symbol der Moderne, der Fähigkeiten und schöpferischen Kräfte der Menschheit im 20. Jahrhundert" und wurde zwischen 1933 und 1945 zum Inbegriff der Ungerechtigkeit und der Menschenrechtsbrüche. Ab 1945 und noch vielmehr ab 1949 und 1961 verkörperte Berlin die Ost-West-Spaltung und den Kalten Krieg. In diesem Buch ist die Rede von der Geschichte der Stadt Berlin zwischen den beiden deutschen Vereinigungen.

Nach der Besiegelung der ersten Einheit im Januar 1871 im Versailler Schloss im Zuge der französischen Niederlage erlebte die Reichshauptstadt einen ungeheueren Aufschwung, der zahlreiche Neuankömmlinge anzog und eine rasche Veränderung des Stadtbildes zur Folge hatte. Die Stadt sollte unter Bismarck zum "Schmelztiegel der nationalen Zukunft Deutschlands" werden. Parallelen zur Entwicklung der Zeitspanne nach 1990 ließen sich aber in Bezug auf die nationalistische Hybris kaum verzeichnen, und die Unterschiede hinsichtlich der selten zu bemerkenden Befürchtungen der Nachbarländer fielen umso besser auf, als das vereinigte Deutschland mit der neuen Hauptstadt Berlin seinen Platz inmitten der europäischen Nationen einnahm. So konnten eher Metamorphosen und Diskontinuitäten in der Geschichte der Stadt festgestellt werden.

Von besonderem Interesse – und dem trägt auch der Autor der vorliegenden Studie Rechnung – war stets die kulturelle Blüte der Stadt, die weitgehend als "Hochburg der Moderne" angesehen wurde. Das fünfte Kapitel über die "Weltstadt der Ordnung und der Schönheit" ist in dieser Hinsicht besonders gelungen. Nach einigen wenigen Seiten über Politik und Geschichte, um den Rahmen abzustecken, schildert Large eindrucksvoll, wie einige Restaurants, Cafés und Lokale zum Treffpunkt der Prominenz wurden und der Tänzerin Josephine Baker einen hinreißenden Empfang bereiteten. Anders als die Mietskasernen aus der Kaiserzeit entstanden zu jener Zeit in Berlin innovative Bauwerke mit futuristischen Kurven. Die Berliner Verkehrs-Betriebe sorgten für die rasche Beförderung der Einwohner und Besucher. In den "goldenen 20er-Jahren" war Berlin sogar auf dem Gebiet des Films, des Kabaretts und der Musik zur Stadt der Avantgarde avanciert, der sich unter dem amerikanischen Einfluss neue Dimensionen eröffneten. Von der Blüte der Literatur, des Theaters und der bildenden Künste ganz zu schweigen.

Nach der 12-jährigen Zeitspanne der Gleichschaltung, der Fackelzüge, des "Kampfes gegen Dekadenz und moralische Fäulnis" und der Verfolgung und Ermordung der Juden war Berlin ein Trümmerfeld. Die "Faschistenhöhle" erstand allmählich aus den Ruinen auf, und das Leben gestaltete sich zumal nach dem Bau der Mauer am "Tiefpunkt" der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Für "Rebellen, Terroristen und Hausbesetzer" – so der Titel eines Kapitels – wurde West-Berlin ab dem Ende der 60er-Jahre besonders attraktiv: Die "alternative" Stadt bot nämlich den jungen Pazifisten einen bequemen Unterschlupf, da sie sich dort dem Militärdienst entziehen konnten. Die Schilderung der DDR-Zeit im östlichen Stadtteil und die kulturelle Opposition werden auch nicht vergessen. Auf knapp 100 Seiten wird schließlich die Entwicklung seit dem Fall der Mauer umrissen.

Large lag es daran, "politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Fäden zu einem Gesamtbild zusammenzuweben". Er betont, der kulturellen Entwicklung gelte dabei sein besonderes Augenmerk. Auf etwa 600 Seiten ist es ihm gelungen, ein umfassendes Bild der Geschichte der Stadt zusammenzusetzen. Es ist nur schade, dass die Abbildungen den heutigen Maßstäben nicht wirklich entsprechen.

Anne-Marie Corbin, Paris





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Oktober 2002