ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Guntolf Herzberg/Kurt Seifert, Rudolf Bahro - Glaube an das Veränderbare, Eine Biographie, Ch. Links Verlag, Berlin 2002, 656 S., geb., 29, 90 EUR.

Das theoretische Denken der Opposition in der DDR prägten wesentlich Texte von Personen, die selbst der Staatspartei angehörten und sich lange Jahre für Kommunisten hielten oder es wohl auch waren. Diese Palette reicht von Wolfgang Harich über Robert Havemann und Wolf Biermann bis zu Rolf Henrich. Aber keine theoretische Arbeit ist so wirkungsmächtig gewesen wie Rudolf Bahros "Die Alternative". Umso erstaunlicher ist es, dass seine Ideen in der friedlichen Revolution 1989/90 kaum eine Rolle spielten und Bahro in seiner Bedeutung als Denker bis heute unterschätzt wird. Besonders gilt das für seine Zeit in der Bundesrepublik und dann im wiedervereinten Deutschland.

Ernest Mandel allerdings hielt Bahros Analyse der realsozialistischen Gesellschaft ("Die Alternative") für das wichtigste theoretische Werk aus den mittelosteuropäischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine solche Hochachtung ist umso überraschender, da Bahro nicht zur bezahlten "Geisteselite" der SED gehörte, sondern sein Werk illegal in seiner arbeitsfreien Zeit schreiben musste. Und aus dieser Situation der Vereinzelung heraus trat er mit grundstürzenden Thesen an die Öffentlichkeit. Dazu gehörte die Einsicht, dass in den realsozialistischen Ländern nicht die Herrschaft als solche aufgehoben war, sondern ein "Industrialisierungsdespotismus" herrschte. Staatsapparat und Parteispitze hätten hier die Rolle der kapitalistischen Ausbeuterklasse übernommen und würden um die Verewigung einer "späten Klassengesellschaft" kämpfen. Dies ließe fortschrittlichen Marxisten gar keine andere Wahl, als sich illegal in einem neuen "Bund der Kommunisten" zu organisieren. Das war in der DDR Staatsverrat und Agententätigkeit, die zu Strafmaßnahmen durch die Herrschenden führen mussten.

Die Autoren der jetzt endlich vorliegenden umfassenden Bahro-Biografie verfolgen das Leben des Dissidenten bis in seine Kindheit. Hier beschreiben sie seine Prägung durch traumatische Kindheitserlebnisse und vielfältige Brüche. Es gab aber auch eine sehr frühzeitige Bindung an politische und kulturpolitische Institutionen der DDR. Und so war ein Studium der marxistischen Philosophie ab 1954 auch nur folgerichtig. Bahro war Kommunist und er war Stalinist, der in dem Diktator ein überirdisches Wesen sah. Das paarte sich mit hohem Geltungsbedürfnis und der Liebe zur geistigen Arbeit, besonders zum Schreiben von Lyrik. Trotzdem blieb er lange Jahre ein engstirniger und eifernder Theoretiker. Nach dem Abschluss des Studiums ging Bahro im "Klassenauftrag" als Parteiarbeiter aufs flache Land, um dort für die Verbindung von Intelligenz und Bauernschaft zu werben. Und so sind seine Texte als Dorfzeitungsredakteur von Dogmatismus und Hetze gegen den Klassenfeind gekennzeichnet.

Auch in seiner Zeit als Redakteur der Parteizeitung von 1960 bis 1962 an der Universität Greifswald zeichnete sich keine Änderung ab. Noch immer stellte er das gute und aufstrebende "sozialistische Lager" neben den verfaulenden und niedergehenden "Imperialismus". Diese in den Augen der SED konsequente Haltung brachte Bahro 1962 auch wieder nach Berlin, in den Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft. Hier muss er sein "Damaskus-Erlebnis" gehabt haben, die Entdeckung, dass die SED aus zwei Gruppen bestand, aus denjenigen, die am Status quo fest hielten und jenen, die auf Reformen setzten. Und mit dieser Einstellung kam er 1965 zur Studentenzeitschrift "Forum", der wohl lebendigsten Wochenzeitschrift in der DDR. Jetzt meinte Bahro, dass die Gesellschaft verbessert werden müsste, um damit den Anforderungen der technischen Revolution gewachsen zu sein. Und jetzt erkannte der einstige Dogmatiker, dass die Hemmnisse, die er überwinden wollte, systemimmanent waren. Der Weg zur "Alternative" begann.

Entscheidend war jedoch, dass Bahro von 1967 bis 1977 in der Industrie arbeiten musste, um dort durch Rationalisierung die Produktion effektiver zu gestalten. Jetzt hatte er die sozialistische Praxis ständig vor Augen und konnte an seiner Dissertation schreiben, was er mit Studien zur "Alternative" verband. Gleichzeitig versuchte er jedoch – so 1967 in einem Brief an Ulbricht – konkrete Vorschläge zur Überwindung der die DDR prägenden Subalternität zu machen. Und er formulierte auch den revolutionären Gedanken, den Arbeitern die legislative Macht in den Betrieben legal in die Hände zu geben. Kaum zu erwähnen ist, dass eine solche basisdemokratische Auffassung in der SED-Führung auf taube Ohren stoßen musste. Und so ist Bahros Brief zwischen Tollkühnheit und Naivität anzusiedeln. Für ihn selbst war die ausbleibende Reaktion jedenfalls ein Anlass, seine Gedanken systematisch auszubauen, um sie als Buch in einem DDR-Verlag veröffentlichen zu können.

Wie für viele andere DDR-Oppositionellen wurde das Jahr 1968 auch für Bahro zum Schlüsselerlebnis. Er protestierte gegen die Aggression der Warschauer Pakt Staaten und wurde daraufhin von der Staatssicherheit operativ unter Kontrolle gehalten. Bahro wählte jetzt den Weg der äußerlichen Anpassung und inneren Dissidenz. In seiner Haltung wird er bestärkt worden sein, als die Staatssicherheit seine Promotion verhinderte. Ausschlaggebend dafür war, dass er an seine theoretisch angelegte Dissertation soziologische Befragungen als separaten Anhang angegliedert hatte. Jetzt wusste Bahro, dass die Staatssicherheit auf seiner Spur war und die Angst begann, noch vor der Fertigstellung der "Alternative" verhaftet zu werden. Es gelang ihm jedoch, verschiedene Manuskripte des Buches in der DDR zu verteilen und das Manuskript auch in den Westen zu schmuggeln. Die Geheimpolizei war darüber informiert, unternahm jedoch zuerst nichts. Dieses Verhalten ist bis heute rätselhaft und auch die Bahro-Biografen können es letztlich nicht aufklären. Vielleicht war der ausschlaggebende Grund dafür der, dass der Staatssicherheit nach der Biermann-Affäre das Provozieren einer neuen öffentlichen Diskussion einfach unpassend erschien.

Und so nahmen Bahros Gedanken ihren Weg rund um die Welt. Im Kern liefen sie darauf hinaus, dass es in Mittelosteuropa keinen Sozialismus gäbe, sondern nur protosozialistische Verhältnisse, in denen ältere Ausbeutungsformen bestehen blieben. Gleichzeitig verteidigte Bahro Lenin und auch Stalin versuchte er als Erneuerer zu verstehen. Die Millionen Opfer kommunistischer Herrschaft in der Sowjetunion überging er und würdigte stattdessen Stalins terroristisches Wirken. Gleichzeitig griff er die Bürokratie an und setzt sich für die Überwindung der Entfremdung ein. Zwar gab es bei ihm keine Zugeständnis an den Kapitalismus, trotzdem hatte Bahro die in der DDR zulässige Schwelle erlaubter Kritik deutlich überschritten. Das musste Folgen haben.

Die Geheimpolizei verhaftete Bahro und nahm ihm in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe lauteten Sammlung und Weitergabe geheim zu haltender Daten, also im engeren Sinne Spionage. In dieser Situation war die Hauptverhandlung nur noch eine Formsache. Gregor Gysi als Anwalt Bahros kämpfte für eine Strafmilderung und Bahro bestand darauf, dass sein Verbrechen lediglich darin bestand, ein Buch geschrieben zu haben. Seine Richter gingen darauf nicht ein und verurteilten ihn zu acht Jahren Haft mit der Begründung, er habe Informationen zur Unterstützung des Kampfes gegen die DDR in den Westen gebracht. Nach der Verurteilung war die Solidaritätswelle im Westen (mit dem Höhepunkt des internationalen Bahro-Kongresses in Berlin 1978) unerwartet stark, die die SED in eine peinliche Defensive brachte. Dagegen blieb es in der DDR relativ ruhig, die "Alternative" entfaltete ihre Wirkung nur langsam und subkutan.

Breit schildern die Verfasser Bahros Haft im Zuchthaus Bautzen II und seinen Kampf gegen die Haftbedingungen. Schließlich stellte er 1979 einen Ausreiseantrag und sein zweites Leben, politisch bei den Grünen, in der Bundesrepublik begann. Bahro beschäftigte sich jetzt mit anderen Themen, es ging zuerst um die Naturverträglichkeit moderner Gesellschaften und dies verband er in seinen Reden und Debattenbeiträge mit einem religiösen Grundton. Und für die bundesdeutsche Linke war es auch ungewohnt, dass er meinte, die Revolution der Seele müsse jedem ernsthaftem äußerem Handeln vorausgehen. Auch die Auffassung von der notwendigen Blockfreiheit der deutschen Staaten wurde nur von wenigen so konsequent wie von Bahro vertreten. In die Isolation brachte ihn jedoch, dass er versuchte, eine Gesellschaftsreform durch den Aufbau kommunitärer Gemeinschaften zu erreichen und gleichzeitig eine entscheidende politische Rolle spielen wollte. Der von ihm geforderte Ausstieg aus der "Megamaschine" führte letztlich zum Abschied von den Grünen. Statt ihrer setzte er auf Michail Gorbatschow als den "Fürsten der ökologischen Wende" und in seiner "Logik der Rettung" führte er aus, dass sich die Selbstausrottung unserer Gesellschaft durch Retuschen und Reformen nicht mehr aufhalten lassen würde. Dieses Buch wurde jedoch kaum noch rezipiert und das Wort von der "Ökodiktatur" isolierte Bahro weiter. Die Jahre zwischen 1987 und 1989 waren so vom Aufbau einer ökospirituellen Gemeinschaft in der Eifel geprägt, bis die Revolution in der DDR eine neue Wendung brachte.

Jetzt versuchte Bahro auf dem SED-Sonderpartei im Dezember 1989 durch seinen Auftritt zur Rettung der DDR beizutragen. Doch es war zu spät; die von ihm geforderte ökologische Wende war keine mögliche Alternative gesellschaftlicher Neuorientierung in einer Zusammenbruchsgesellschaft. Und auch seine Arbeit als Professor für Sozialökologie an der Humboldt-Universität vermochte zu einem Umbruch in den Metropolen nichts mehr beizutragen. Bahro wirkte oft völlig konzeptionslos und nur von sich überzeugt, seine Auftritte waren Selbstinszenierungen ohne gesellschaftliche Relevanz. Dies alles wurde nicht besser, als Bahro 1992 daran ging, die DDR in wesentlichen Punkten zu verteidigen und sich mit Honecker persönlich aussöhnen wollte. Noch einmal unterstützte er ein lebensreformatorisches Projekt auf Gut Pommritz und verstrickte sich gleichzeitig in politische Auseinandersetzungen.

Im Zentrum von Bahros Denken blieb auch in dieser Zeit die notwendige "Bewusstseinsentfaltung als die eigentliche menschliche Aufgabe" und er beschloss sein Leben nach schwerer Krebskrankheit als spiritueller Kritiker der Moderne. Sein Lebenswerk musste durch seinen frühen Tod ein Torso bleiben, aber von so gewaltigem Ausmaß, das sich auch kommende Generationen an ihm abarbeiten werden. In der DDR war er ein einzelner intellektueller Dissident, in der Bundesrepublik blieb er weitgehend unverstanden und das vereinte Deutschland zeigte sich seinem spirituellem Sozialismus gegenüber verschlossen. Mit seinem Wunsch nach Umgestaltung der inneren Welt des Menschen und der Versöhnung von Kultur und Natur blieb er allein. Letztlich besitzt es schon eine gewisse Tragik, dass das einzige seiner Werke, das weltweit rezipiert wurde, die "Alternative" blieb. Und auch die Autoren der Biografie Bahros haben zwar eine lesenswerte und hochinteressante Arbeit vorgelegt, ob sie jedoch zu einer neuen Bahro-Rezeption beitragen wird ist höchst zweifelhaft. Diese würde nur dann einsetzen, wenn ein grundlegender Wertewandel hin zu einem religiösen Sozialismus unsere Gesellschaft prägen würde. Doch dafür gibt es nur wenige Anzeichen.

Rainer Eckert, Leipzig





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