ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Lothar Mertens (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Band 82), Duncker & Humblot, Berlin 2002, 202 S., 54 EUR.

Dieser Sammelband enthält die Referate einer Kooperationstagung zwischen der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V. und der Akademie für politische Bildung, Tutzing, zum Thema "Soziale Ungleichheit in der DDR" im Frühjahr 2000. Der Sammelband erhebt keinen Anspruch auf vollständige Erfassung sämtlicher Formen von Ungleichheit in der DDR. Bei aller Verschiedenheit der Lebensbereiche, die in diesem Band exemplarisch beleuchtet werden, ist allen gemeinsam die weit gehende Tabuisierung der Ungleichheit durch die DDR-Führung.

So interessant und entlarvend die meisten Beiträge auch sind, so vermisst man doch eine Einleitung oder eine Schlussbetrachtung, die die Beiträge in einen größeren Zusammenhang einordnet und den gemeinsamen roten Faden, der im Vorwort des Herausgebers nur kurz angerissen wird, herausarbeitet. So aber stehen die Beiträge relativ zusammenhanglos nebeneinander. Eine Einleitung hätte auf den systemimmanenten Zielkonflikt der DDR-Gesellschaft hinweisen können, der Ungleichheiten von vornherein in Kauf nahm. Es lag in der politischen Absicht der SED-Funktionäre, auf der einen Seite mit hohem propagandistischen Aufwand die sozial-ökonomischen Unterschiede zu nivellieren und auf der anderen Seite Ungleichheiten regimespezifisch zu instrumentalisieren. In dieses Bild passt, dass die Sozialpolitik der DDR stärker als diejenige der Bundesrepublik Deutschland nach der politischen Bedeutung ihrer Zielgruppen differenzierte. Erinnert sei an die sozialpolitische Schlechterstellung der nicht mehr im Erwerbsleben Stehenden durch extrem niedrige Altersrenten. Eine Einleitung hätte auch der Frage nachgehen können, welche Rolle die Systemkonkurrenz zur Bundesrepublik spielte und ob sich in Abhängigkeit hiervon im diachronischen Verlauf unterschiedliche Intensitäten von Ungleichheiten belegen lassen. Interessant wäre auch, einmal nach Wechselwirkungen und Zusammenhängen zwischen den Ungleichheiten zu forschen. Schließlich wurden sie alle als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Funktion der einen zentralistisch gesteuerten Politik eingesetzt.

Diese Desiderate dürfen jedoch nicht über die Qualität und den Informationswert der einzelnen Beiträge hinwegtäuschen. Der Leser trifft auf viele ihm bekannte Ausprägungen von Ungleichheit, z.B. die auch jedem Westdeutschen geläufigen Ungleichheiten im Konsum, etwa die Intershopläden. In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre führte der Ministerrat den in erster Linie für die ländlichen Regionen gedachten Versandhandel ein. Der Leser staunt über den Einfallsreichtum der Planwirtschaftler, um das Missverhältnis zwischen im Katalog angepriesenen Waren und deren tatsächlicher Verfügbarkeit vor den Konsumenten oberflächlich zu kaschieren. Hierzu zählte die gestaffelte Auslieferung von Katalogen mit dem Ergebnis, dass die zuletzt belieferten Kunden bei Bestellungen das Nachsehen hatten. Die angebotenen Artikel waren dann bereits ausverkauft.

Der Beitrag über Ehescheidungen greift eine ebenfalls bekannte Ausprägung von Ungleichheit auf – die Benachteiligung von Frauen. Der Autor sieht die Hauptursache für die steigenden Scheidungsraten in der widersprüchlichen Doppelbelastung der Frau: Einerseits verfügte sie durch ihre Integration in den Arbeitsmarkt über eine wirtschaftliche Unabhängigkeit, die den Schritt zur Trennung erleichterte, andererseits lebte sie zusätzlich zur Belastung des Arbeitsalltags durch den Betrieb in der Familie nach der traditionellen Rollenverteilung, die ihr allein die Hausarbeit aufbürdete.

Einzelne Beiträge widmen sich aber auch Aspekten der DDR-Gesellschaft, die man auf den ersten Blick gar nicht mit Ungleichheit assoziiert, wie räumliche Disparitäten zwischen den Regionen der DDR. An erster Stelle der räumlich relevanten Werte standen in der DDR-Bevölkerung eine saubere Umwelt, gefolgt von einer guten Atmosphäre am Arbeitsplatz und Beschaffenheit der Wohnung. Die Faktoren Umwelt , Arbeit und Wohnen bilden demnach – neben dem Saldo der Binnenwanderung – entscheidende Indikatoren für räumliche Disparitäten. Gemessen an diesen Kriterien waren der Großraum Berlin, das obere Elbtal und Thüringen bevorzugte Wohngebiete.

Da die meisten Autoren selbst in der DDR gelebt und geforscht haben, stützen sie sich zum Teil auf "brisante" Quellen, etwa auf Daten, die sie in DDR-Zeiten nicht veröffentlichen durften. Wie Lothar Mertens in seinem Aufsatz über den Umgang der Parteiführung mit empirischen Befunden sozialer Ungleichheit an mehreren Beispielen nachweist, verschlossen die Machthaber selbst die Augen vor den Ergebnissen vieler Dissertationen zur sozialen Ungleichheit, die an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED entstanden waren. Während in der Ulbricht-Ära Ergebnisse gesellschaftswissenschaftlicher Erhebungen über bestehende Ungleichheiten wenigstens noch in Form vertraulicher Informationen Partei- und Staatsführung erreichten, belegte Honecker seit Beginn der 1970er-Jahre solche, der offiziellen Ideologie zuwiderlaufenden Untersuchungen mit einem Tabu. So blieben die Ergebnisse einer repräsentativen soziologischen Untersuchung in der zentralgeleiteten sozialistischen Industrie der DDR aus dem Jahre 1973 bis 1990 unter Verschluss, hatte sie doch die ideologisch postulierte Annäherung zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz, gemessen am durchschnittlichen Monatseinkommen infrage gestellt. Bedingt durch niedrige Einstiegsgehälter, erzielten Hochschulabsolventen naturwissenschaftlich-technischer Fachrichtungen ein niedrigeres Einkommen als gleichaltrige Facharbeiter in der Industrie und konnten dieses Gefälle selbst im weiteren Berufsleben nicht mehr ausgleichen. Politisch brisant waren auch Unersuchungsergebnisse über unterschiedliche Bildungschancen von Arbeiterkindern und solchen aus bildungsnahen Familien der Intelligenz- oder Funktionärsschichten. Der Abbau zusätzlicher Fördermaßnahmen für Kinder aus klassischen, "echten" Arbeiterfamilien, nicht aus der zur Arbeiterklasse umdefinierten Funktionärsschicht, wie es sie in den 1950er- und 1960er-Jahren gegeben hatte, ließ die Zugangsquoten von Arbeiterkindern zur Intelligenzschicht seit den 1970er-Jahren sogar unter das Niveau der Bundesrepublik Deutschland sinken.

Die Aufsätze sind mit Tabellen, Grafiken und Karten gut ausgestattet. Außerdem gewinnt der Band dadurch an Anschaulichkeit, das viele Autoren ihre persönlichen Erfahrungen einbringen. In dieser Hinsicht sticht besonders der Aufsatz von Peter Maser über die Ungleichbehandlung von Christen hervor. Als Kirchenhistoriker schreibt der Autor sehr persönlich über seine Erlebnisse von Zurücksetzungen in der DDR. Dieser in der Ich-Form geschriebene Aufsatz belegt in seiner Eindringlichkeit die These seines Verfassers, dass "seinem" Thema der Benachteiligung durch Religiosität nicht mit wissenschaftlichen Methoden, mit Erhebungen, unzähligen Einzelbiografien beizukommen ist, sondern dass eine autobiografische Erzählung, die die eigene Lebensgeschichte in die politischen Rahmenbedingungen sachkundig einordnet, die stärkste Aussagekraft besitzt. – Abgerundet wird der Band durch Kurzvorstellungen der Autoren. Ein Gesamtliteraturverzeichnis gibt es nicht. Jeder Aufsatz schließt mit einem Nachweis der benutzten Literatur.

Elke Hauschildt, Koblenz





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