ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Merseburger, Willy Brandt. 1913 – 1992. Visionär und Realist, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/München 2002, 927 S., geb., 32 EUR.

Mit seinen Biografen hat Willy Brandt bisher nicht viel Glück gehabt. Zu seinen Lebzeiten ärgerte er sich über die – seiner Meinung nach missratenen – Versuche von David Binder, Viola Helms Drath und Peter Koch; Letzterem antwortete er sogar in scharfer Form im SPIEGEL. Nun liegt mit Peter Merseburgers umfangreichem Opus ein erstes Werk vor, das auf breiter Quellenbasis Brandts Leben im Detail nachzeichnen und einordnen will. Die einschlägigen Archive hat der Autor intensiv genutzt, Interviews mit vielen Zeitzeugen ergänzten die schriftliche Überlieferung. Dass Helmut Schmidt und Brigitte Seebacher-Brandt nicht als Gesprächspartner genannt werden können, liegt vermutlich nicht an Peter Merseburger.

Die frühen Jahre (bis Kriegsende) nehmen bei Merseburger breiten Raum ein, über ein Viertel des ganzen Buches. Der Autor geht davon aus, dass einige zentrale Ziele, Grundwerte und Orientierungen, die sich Brandt in Lübeck und im Exil aneignete, prägend für dessen weiteres politisches Leben waren. Ganz oben stand das "Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit", eine von Brandt (und diesem folgend auch von Merseburger) August Bebel zugeschriebene Kurzdefinition des Ziels sozialdemokratischer Politik. Die Bedeutung dieses Mottos für Brandt wird nicht dadurch geschmälert, dass das Zitat bei Bebel bisher nicht nachweisbar ist. Merseburger erwähnt es erstmals im Vorwort und letztmals im Schlussabsatz des Buches. Sie ist für ihn das Brandtsche Leitmotiv.

Die Orientierung der Politik am Wohle des Einzelnen, besonders des einzelnen Schwachen, wenn nötig unter Aufgabe von bisher vertretenen abstrakten Dogmen, ist für Merseburger eine weitere früh erworbene Konstante bei Brandt. Hier habe sich der Einfluss skandinavischen Denkens gezeigt. Und schließlich sind es die Begriffe Dialog, Konsens, Kompromiss, die für den Autor Brandts politischen Stil umschreiben. Sie habe der Emigrant in Nordeuropa kennen und schätzen gelernt.

Prägekraft hatten, so Merseburger, auch drei "Vaterfiguren", die nacheinander Brandts politischen Reifeprozess begleiteten: Julius Leber, Jacob Walcher und Ernst Reuter. Merseburger nimmt sich die Zeit (und den Platz), die Drei jeweils auf mehreren Seiten vorzustellen. Für Brandt ging es – das wird in der Biografie deutlich – nicht um einfaches Nacheifern, sondern um ein Lernen durch Zusammenarbeit mit diesen beeindruckenden Persönlichkeiten, manchmal – gerade im Falle Leber – auch durch kritische Auseinandersetzung. Man könnte sie eher Bezugspersonen nennen, wäre der Begriff nicht sozialpädagogisch aufgeladen; gegen "Vaterfiguren" hatte schon Brandt selbst Einwände.

Die letzten 18 Jahre des politischen Wirkens von Willy Brandt, nach dem Rücktritt als Bundeskanzler, werden hingegen vergleichsweise knapp behandelt, wie leider auch in den übrigen vorliegenden Biografien. Dabei stellt Merseburger selbst die Frage, ob nicht "der von den Sachzwängen des täglichen Regierens befreite elder statesman vielleicht der unverfälschte, souveräne, wahre Willy Brandt (ist)? Der Mann, der keiner Rolle mehr genügen, keine Maske mehr tragen, keinen innenpolitischen Erwartungen mehr entsprechen muss und wieder in großen Zusammenhängen denken und leben kann?" (S. 739) Diese Phase stärker zu gewichten, wäre verdienstvoll gewesen.

Der Politiker Brandt erscheint bei Merseburger als seltene Mischung aus Flexibilität, die nicht in den Opportunismus abrutschte, Realismus, der nicht zum Praktizismus verkam, langfristigen Perspektiven (bei Merseburger überhöhend "Visionen" genannt), ohne dass daraus eine festgefügte Weltanschauung wurde, Optimismus ohne Illusionen, Intellektualität ohne abzuheben. Die Veränderung politischer Positionen erfolgte langsam, es gab Phasen "von einander überlappenden Vorstellungen [...]" (S. 198). Der "große Integrator" (S. 423) war Brandt aber nicht immer – das sieht Merseburger selbst. Aber er war auch nicht "konfrontationsscheu wie eh und je" (S. 658), wie Merseburger sich selbst widersprechend schreibt. In den Fünfzigerjahren kämpfte Brandt mit harten Bandagen um den Vorsitz der Berliner SPD. Nach Erreichen des Zieles wurden Anhänger seines Vorgängers Franz Neumann rigoros aus allen Ämtern gedrängt. Merseburger ist erstaunt über dieses Vorgehen, vermag es überzeugend nicht zu erklären, denn der Hinweis, Geschlossenheit nach außen habe Vorrang gehabt, ist tautologisch. War Brandt (die Mehrheit und er sich seiner selbst) vielleicht noch zu unsicher, um anders reagieren zu können als es seine Gegner ihm vorexerziert hatten?

Den verbreiteten Fehler, Brandt einen Widerwillen gegen Machtausübung zu unterstellen, begeht Merseburger nicht. Aber Brandt war nur bedingt zur Offensive fähig. "Am besten kämpft Brandt, wenn in seinem Rücken nur noch die Wand steht" (S. 573) Bekannteste Ausnahme ist die Wahlnacht 1969, als er beherzt die sozialliberale Koalition initiierte.

Bisher Unbekanntes wird nur selten präsentiert; es war aber auch kaum zu erwarten. Die norwegische Zeit ist von Einhart Lorenz weitgehend erforscht, die Nachkriegskarriere verlief seit Mitte der Fünfzigerjahre im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Politische Journalisten, zu denen lange Jahre auch Merseburger gehörte, sorgten dafür, dass schon den Zeitgenossen kaum etwas verborgen blieb; den Rest besorgte die Öffnung der Stasi-Archive (im vorliegenden Fall besonders für die Hintergründe des gescheiterten Misstrauensvotums 1972). Merseburger liefert, was alleine schon ein Verdienst wäre, diese bekannten Fakten in einer souveränen Zusammenfassung. Ganz selten einmal, dass der Rezensent Unstimmigkeiten zu entdecken meinte. An einigen Stellen gibt es aber doch Neues. Entgegen den verbreiteten Darstellungen war Brandt in seiner Schulklasse kein Außenseiter, vielmehr einer der Wortführer. Und zum Mauerbau kann Merseburger nun einem breiten Publikum vermitteln, was Wolfgang Schmidt bereits in seiner Arbeit über die Frühphase der Brandtschen Ostpolitik herausgefunden hat: dass Brandt entgegen seiner eigenen Darstellung vor dem 13. August 1961 Informationen über die bevorstehenden Maßnahmen der DDR vorlagen.

Die besondere Stärke des vorliegenden Werkes ist die Charakterisierung der Politik, aber auch des Menschen Brandt. Strenge Urteile sind nicht Merseburgers Sache. Auch da, wo er Brandt kritisiert, wägt er zuvor die Möglichkeiten ab, die dieser hatte, arbeitet die vermutlichen Motive für dessen Verhalten heraus, kleidet Kritik eher in Fragen oder schwächt sie dadurch ab, dass er sie durch Zitate anderer Autoren vermittelt. Durch kontrafaktische Erwägungen werden Handlungsspielräume deutlich gemacht, die Zwangsläufigkeit des Geschehenen infrage gestellt. Der Leser jedenfalls hat immer die Möglichkeit, sich sein eigenes Urteil zu bilden.

Grundsätzlich sympathisiert Merseburger mit der Politik von Willy Brandt, was für alle, die ihn noch als Journalisten kennen, keinerlei Überraschung ist. Drei Einschränkungen sind aber zu finden:

– Für die frühe, die linksradikale Phase Brandts hat der Autor nur insoweit Verständnis, als er sie als Lernprozess versteht, in dem sich Brandt allmählich aus dogmatischer Enge des Denkens befreit;

– Brandts Methoden in der innerparteilichen Auseinandersetzung im Berlin der Fünfzigerjahre sieht Merseburger kritisch, insbesondere wie erwähnt das Verhalten nach dem Sieg über Franz Neumann;

– Am gewichtigsten sind die Einwände gegen Brandts eher abwehrende Reaktion auf die osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen in den Achtzigerjahren. Merseburger kritisiert die "gouvernementale" Politik der SPD gegenüber dem Osten, die Brandt gedeckt habe. Sie habe die Kontakte zu den Oppositionellen "wenn nicht verhindert, dann doch beeinträchtigt" (S. 812).

Willy Brandts größtes politisches Verdienst war für Merseburger – was die harten Fakten angeht – die Entspannungspolitik, in einem allgemeineren Sinne aber, "den Abstand zwischen Macht und Moral in seiner Regierungszeit verringert" zu haben (S. 862).

Was für ein Mensch war Willy Brandt für Merseburger? Vielschichtig: "Verschlossen, auf Distanz bedacht" (S. 57), mit einer "bis zum Extrem gesteigerte(n) Unfähigkeit, sich gegenüber anderen zu öffnen. Er will sich auf einzelne Menschen nicht einlassen, mag Leute am liebsten in Gruppen, wo die Gefahr nicht besteht, dass ihm jemand mit Persönlichem zu nahe tritt." (S. 742) Zugleich aber neigte er zu Emotionen in der Politik (S. 370, 417). Charisma hatte er unzweifelhaft. Merseburger gibt ein beredtes Beispiel aus dem Jahr 1980: Eine Stuttgarter Kammermusikerin schreibt in einem Brief an Brandt: ",Sie gaben mir die Hand, und ich habe sie an dem Tag nicht gewaschen.’" (S. 777) Frauengeschichten und Alkoholprobleme relativiert der Autor, misst ihnen keine große Bedeutung zu; auch die "Depressionen" werden nur beiläufig erwähnt.

Aber trifft Merseburgers, von Johannes Gross übernommenes Fazit zu: "Adenauer wurde respektiert, Brandt aber haben die Deutschen geliebt" (S. 856)? Dies gilt doch wohl uneingeschränkt erst nach dem Tod. Zuvor konnte man dies zwar phasenweise (aber auch nicht durchgängig!) für die Anhänger der Sozialdemokratie sagen, jedoch nicht für die gesamte Bevölkerung, wie Umfragen hinreichend belegen.

Ein Schwachpunkt ist sicher die Einbettung von Brandts Lebenslauf in die allgemeine politische Entwicklung. Zwar werden die wichtigsten Weggenossen porträtiert, doch was sich jenseits des persönlichen Umfeldes von Brandt politisch ereignete, muss der Leser vorab schon wissen. Ohne gute Kenntnisse der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert ist das Buch nicht zu verstehen. Zu konzedieren ist, dass wohl nur Leser mit ausgeprägtem historischen Interesse (und somit genügenden Vorinformationen) 866 Textseiten – stets sehr gut lesbar – auf sich nehmen und durchstehen werden. Insofern hat Merseburger nicht über die Köpfe des potenziellen Publikums hinweg geschrieben. Aber ein Mehr an Einordnung des Brandtschen Lebenslaufs in die allgemeine Entwicklung, dafür eine etwas weniger weitschweifige Darstellung der Person wäre gut gewesen. Immerhin geht es bei einer Biografie auch um die Frage, wo der Porträtierte "Kind seiner Zeit" und wo er ihr voraus war, sie selbst geprägt hat.

Auf so vielen Seiten einige Fehler zu finden, ist normal. Ihre Zahl hält sich sehr in Grenzen, und fast alle sind der Hektik kurz vor Drucklegung geschuldet, Schreibfehler, so erkennbar, dass wohl jeder Leser selbst sie korrigieren kann, wenn z.B. S. 50 Hitlers Machtübernahme auf das Jahr 1930 datiert wird. Gewichtige Irrtümer hingegen sind die absolute Ausnahme. Die nordrhein-westfälische SPD verpasste Mitte 1966 um Haaresbreite die absolute Mehrheit statt sie zu erringen (S. 487); das Rücktrittsschreiben richtete Brandt natürlich an Bundespräsident Heinemann, nicht an dessen Nachfolger Scheel (S. 519); "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" hat Willy Brandt am 10. November 1989 mehrfach, aber nicht in der Rede vor dem Rathaus Schöneberg gesagt (S. 837).

Merseburgers Biografie ist das beste Werk über Willy Brandt, das bisher geschrieben wurde, auch wenn Gunter Hofmanns Essay und Carola Sterns knapper Überblick daneben ihren Wert behalten. Für lange Zeit wird das vorliegende Buch auch die detaillierteste Darstellung bleiben. Fazit: Eine gelungene, gut lesbare Arbeit, die allen an Willy Brandt Interessierten empfohlen werden kann.

Bernd Rother, Berlin





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Oktober 2002