ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, C.H. Beck, München 2002, XII, 450 S., brosch., 24,90 EUR.

Seit Jahren ist zu beobachten, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft verstärkt nicht mit dem Ereignis als solchem, sondern mit dessen Wirkung, Wahrnehmungen und Folgen beschäftigt. Davon geht auch Norbert Frei aus, der, in einem lesenswerten Sammelband mit Beiträgen einer Tagung in der Gedenkstätte Buchenwald im Jahr 2.000, vorschlägt, solche Phänomene nicht dem kulturellen Gedächtnis sondern präziser einem Generationen-Gedächtnis zuzuordnen. Und er hat Recht, wenn er feststellt, dass die deutsche NS-Forschung erst dann internationalen Anschluss fand, als sie "Auschwitz" als Deutungsachse ernst nahm. Dies bedeutet – bezogen auf die DDR – aber auch, dass deren Historiker eben niemals diesen Anschluss erreichten. Mit dem Holocaust setzten sich auch die meisten Autoren des Bandes auseinander, ohne diesen Massenmord an den Juden jedoch zum negativen Gründungsmythos der Europäischen Union zu überhöhen.

Einig sind sich die Autoren aber darin, dass das 20. Jahrhundert nicht nur ein Zeitalter auf äußerste entgrenzter Kriegführung war, sondern besonders in seiner zweiten Hälfte auch immer davon geprägt war, solche Verbrechen öffentlich anzuprangern. Gegenwärtig sind öffentliche Erinnerungen an den nationalsozialistischen Massenmord in vielen Ländern zu normativen Teilen der Politik geworden. Umso mehr mag befremden, dass die Debatte über die Gestaltung dieser Erinnerung noch weitgehend ausgeblieben ist. Dazu gehört etwa die Klärung des Verhältnisses zwischen Museen und Gedenkstätten und die Bewertung der Tendenz, gerade diese Gedenkstätten immer mehr als touristische Attraktion zu vermarkten.

Den Reigen der Beiträge eröffnet Ivan Ivanji mit einer Warnung vor der Unfähigkeit der Medien, die Verbrechen des Massenmordes adäquat zu erfassen, und er warnt nicht zu Unrecht vor der Hoffnung, jemals die ganze Wahrheit erfassen zu können. Dem schließt sich Reinhart Koselleck mit der Frage an, wie denn Verbrechen überhaupt zu erinnern sind. Wenn die Sinnlosigkeit zum Ereignis wird, muss es immer schwierig sein, Terrorsysteme, Massenmord und Vernichtungsaktionen in Erinnerung zu halten. Die Erfahrungen, die Menschen mit ihnen machten, sind oft unübertragbar, und auch menschliches Leid kann nicht durch Gedenkstätten vermittelt werden. Aber wenn auch letztlich alle Wege dieses Gedenkens unzureichend bleiben, so müssen sie doch gegangen werden, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und für die Zukunft zu mahnen.

Neben den dem Holocaust gewidmeten Beiträgen handelt Mihran Dabag über den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich, Helen Macdonald über die Gespaltene Erinnerung Südafrikas, Benjamin Stora über den Algerienkrieg im Gedächtnis Frankreichs, Remco Raben über die postkoloniale Moral in den Niederlanden, Sergej Slutsch über den Terror in der Sowjetunion und Takeo Sato über Japan und den Zweiten Weltkrieg. Dabei wird deutlich, dass Massenmord immer zur Herrschaftsausübung totalitärer Regime gehört, dass aber auch andere Staaten im Krieg oder im Kolonialkrieg zu moralisch nicht gerechtfertigten Mitteln greifen. Bei der Überwindung von Spaltung in einer Gesellschaft, die eine Phase des Verbrechens hinter sich gebracht hat, könnten die südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen als Vorbild dienen, durch deren Arbeit die Möglichkeit besteht, dass in Zukunft alle Südafrikaner zu ihrer Geschichte stehen, wenn auch eine kollektive Erinnerung, die von einem "Wir" getragen wird, nicht zu erreichen sein wird.

Aber auch im Verhältnis Frankreichs zu Algerien ist noch ein langer Weg bis zu einer Aussöhnung zurückzulegen. Ein erster Schritt könnte hier sein, dass jetzt in Gesetzestexten eingestanden wird, dass es einen Algerienkrieg überhaupt gegeben hat. Bezogen auf die koloniale Vergangenheit ist die Situation in den Niederlanden ähnlich wie in Frankreich: Die Erinnerung bleibt marginal und auf einige Gruppen beschränk. Sergej Slutsch beschäftigt sich in seinem Beitrag weniger mit der Erinnerung, sondern mehr mit dem systematischen Staatsterror in der Sowjetunion. Allerdings hält er fest, dass das Interesse an Geschichte im heutigen Russland stark zurückgegangen ist. Hier wäre eine vergleichende Studie zum Geschichtsbild in den Ländern Mittelosteuropas interessant gewesen.

Überraschend ist, dass Takeo Sato ausführt, dass es in Japan eine Kollektivschuld gäbe, diese jedoch darin besteht, dass sich viele Japaner schuldig für die militärische Niederlage ihres Landes fühlen und glauben, den Kaiser dadurch enttäuscht zu haben. Sicher ist eine solche Situation in Deutschland undenkbar, doch dauerte es auch in der Bundesrepublik fast zwanzig Jahre, bis sich Gedenkstättenpolitik als moralische und politisch-pädagogische Aufgabe durchsetzen konnte, wie Edgar Wolfrum ausführt. So blieben Kenntnisse über den Holocaust bei vielen Westdeutschen marginal, eher schlechter war es in der DDR, in der die Vergangenheitsbewältigung mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" für beendet erklärt wurde. Allerdings war die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik fast flächendeckend mit Denkmälern und Erinnerungsorten zum antifaschistischen Widerstand übersät, umso die schmale Legitimationsbasis der SED zu stärken. Bertrand Perz schildert die Situation in Österreich, das sich lange Zeit als erstes Opfer Hitlerscher Aggressionspolitik ansah. Erst in den Achtzigerjahren wurde Schuld eingeräumt, doch blieben die Schuldbekenntnisse weitgehend abstrakt oder mussten hinter der Herstellung nationaler Identität zurücktreten. Und Karl Stuhlpfarrer meint, dass sich Österreich in der Schuldfrage noch immer hinter der Bundesrepublik "verstecken" würde. Aber auch hier hat sich in den letzten Jahren der Kampf um die Deutungshoheit über den Nationalsozialismus verschärft.

Ähnlich stand in Frankreich (Pieter Lagrou) lange Zeit das Sterben an der Front im Mittelpunkt der Erinnerung, dazu kam ein einheitliches Gedenken an den Widerstand. Erst sehr spät wurden die jüdischen Opfer der Deportationen in dieses Gedenken eingeschlossen. Allerdings ist es in den letzten zehn Jahren zu einem übergreifenden Phänomen geworden (Henry Rousso). Ähnlich wie in Frankreich wird in Polen die Beurteilung der Haltung in der Okkupationszeit, die Kollaboration und die Geschichte der Nachkriegsabrechnungen kontrovers diskutiert (Edmund Dmitrów, Adam Krzeminski). Die Kommunisten erinnerten sich an den Zweiten Weltkrieg als schließliche Sieger und versuchten in mythologischer Überhöhung auf ihn die Identität Polens aufzubauen. Ganz anders wird in Israel die Geschichte der Erinnerung an den Holocaust als nationale Geschichte betrachtet, wie Natan Sznaider und James E. Young darlegen. Eine Ironie der Geschichte ist es dabei, dass unmittelbar nach der Staatsgründung der Holocaust als Geschichte von Opfern etwas zu sein schien, dessen man sich schämen müsse. In Laufe der Jahrzehnte wurde der Opfergang zu einer geheiligten Erinnerung mit halb religiöser Bedeutung. Und erst heute versuchen einige "neue Historiker" sich davon zu befreien und etwa nach Geschichte und historischen Rechten der Palästinenser zu fragen. Ganz ähnlich waren die Juden in den USA nicht daran interessiert, sich mit der Qualen der Juden in Europa zu beschäftigen (Gulie Ne`eman Arad) und nur ganz allmählich wandelte sich der Holocaust zu einem zentralen Ereignis jüdischer Geschichte und zum Instrument jüdischer Politik. Hier setzt Peter Novick mit dem Hinweis darauf an, dass der Holocaust inzwischen zu einer bedeutenden amerikanischen "kollektiven Erinnerung" geworden ist. Viele Amerikaner identifizieren sich heute mit den getöteten Juden - einen Grund dafür sieht Novick darin, dass gerade eine solche Haltung sehr wenig mit der amerikanischen Wirklichkeit zu tun hat.

Schließlich führt Dan Diner aus, dass die Idee Europa auf einem Wertekatalog menschenrechtlichen und antigenozidalen Einvernehmens beruht. So sei das Gründungsereignis Europas der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust als Kern. Folgend beschäftigen sich Heinz D. Kittsteiner mit Gedächtniskultur und Geschichtsschreibung, Harald Welzer mit dem Holocaust im deutschen Familiengedächtnis, Rudolf Herz mit Kunst und Erinnerung, Detlef Hoffmann mit Architektur und Bildender Kunst in diesem Umfeld und Gertrud Koch mit Film, Fernsehen und neuen Medien. Zu Recht stellt Charles S. Maier fest, dass es kein Verblassen der Erinnerung an den Holocaust gibt, sondern dass Erinnerung noch nie so stark gesucht und herbeigesehnt wurde. Eindringlich warnt er jedoch davor, Gedenkorte mit Kitsch zu verbinden. Aus seiner persönlichen Situation heraus empfindet er die Erinnerung an den Nationalsozialismus als "heiße Erinnerung", die an stalinistische oder maoistische Verbrechen dagegen nicht – hier werden die Einwohner kommunistischer Staaten anders empfinden. Dagegen hat Maier Recht mit der Auffassung, dass es produktiver sei, statt von Erinnerungsorten zu sprechen sich mit streitenden Erinnerungsgemeinschaften zu beschäftigen. Die Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung lässt sich in Ostdeutschland in den letzten zwölf Jahren wie in einem Feldversuch beobachten.

Weiterhin beschäftigt sich Franziska Augstein mit der deutschen Schuld als Gründungsmythos der Bundesrepublik und behauptet (irrtümlich), dass mit dem Fall der Mauer die Zeit der Buße vorbei wäre. Genauso falsch ist die Behauptung, dass Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus immer wieder auf die gleich Stufe gestellt werden. Hier wird Vergleich mit Gleichsetzung verwechselt. Norbert Frei handelt von der Ausweitung der Holocaustforschung und warnt gleichzeitig davor, dass die Geschichtswissenschaft sich überschätzen könnte. Die öffentlichen Debatten werden heute viel mehr in den Medien geführt, die Historiker sollten in dieser Situation zu Wahrern eines kritischen Gedächtnisses werden. Volkhard Knigge beschreibt die Entwicklung von Gedenkstätten und Museen in Deutschland und unterscheidet hier wenig glücklich zwischen zwei Grundvarianten: narrative und dokumentierend-argumentierende Ausstellungen. Diese Differenz erscheint mir zu künstlich und Knigge hält sie in seinen weiteren Ausführungen auch nicht konsequent durch. Schließlich plädiert er noch für die Erinnerung als erfahrungsgeschichtliche Quelle, jedenfalls solange wie die Überlebenden der Verbrechen noch leben.

In ihrer Spezifik und Internationalität sollten die hier versammelten Beiträge zu einer noch ausstehenden Diskussion über Repräsentation und Symbolisierung von Nationalsozialismus und Stalinismus führen. Und es sollte – nein es muss – bei aller Unterschiedlichkeit ein gesamteuropäischer Diskurs werden.

Rainer Eckert, Leipzig





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Letzte Korrektur/Änderung: 13.11.2002