ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Petra Liebner, Paul Tillich und der Council for a Democratic Germany (1933 bis 1945), Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main etc. 2001, 639 S., brosch., 75.70 EUR.

Um bei dem für wissenschaftliche Publikationen als Mindeststandard üblichen Schluss zu beginnen: Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, hat mal wieder ein Register wenigstens der Namen nicht für nötig gehalten. Gehen wir zum Anfang über: Der Titel ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Die meisten Betrachter werden die in Parenthese gesetzten Jahreszahlen "1933 bis 1945" aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Council for a Democratic Germany beziehen. Der aber existierte, mit Sitz in New York, dem Namen nach nur vom April 1944 bis zum Auseinanderfall im Herbst 1945, als eine Reihe von Nichtkommunisten wegen unüberbrückbar gewordener Streitigkeiten mit den Kommunisten über das Potsdamer Abkommen und seine politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen für ein ursprünglich gemeinschaftlich gefordertes und verteidigtes ungeteiltes Deutschland austraten; allenfalls bis Anfang 1946, als Vorsitzender Paul Tillich, der mit einigen Wenigen am Council fest halten wollte, ebenfalls resignierte. De facto wurde der Council nie offiziell aufgelöst.

Die unmittelbare Vorgeschichte des Council begann mit dem Bekanntwerden der Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland in Moskau im Juli 1943. Darüber hinaus kann Paul Tillich trotz seiner geistigen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus aus christlich-sozialistischer Sicht, die sich spätestens seit 1933 in seinen Publikationen niederschlugen, und trotz seiner politischen Aktivitäten weder als der Initiator und Organisator des Council noch als die Persönlichkeit angesehen werden, die diesem breiten überparteilichen Gremium – eigentlich hielten sich nur der "rechte" Flügel der SPD-Emigration in den USA und aus der KPD ausgeschlossene einst hohe Funktionäre feindselig fern – seinen Stempel hinsichtlich eines postfaschistischen, demokratischen Deutschland aufdrückte. Das tritt in der Darstellung auch klar zu Tage, wenngleich die Autorin auf der zweiten Seite ihrer "Einführung" (Kapitel 1, S. 10) schreibt: "Im Zentrum der Untersuchung stehen die Positionen und Vorstellungen des Vorsitzenden Paul Tillich, der nicht nur Repräsentations- und Integrationsfigur war und eine Mittlerrolle im Council einnahm, sondern den Widerstand gegen das ‚Dritte Reich’ aktiv mitgestaltete und Perspektiven für die Nachkriegszeit entwickelte." Gegen Ende der "Schlussbetrachtung" (Kapitel 3, S. 543) schreibt sie zurecht: "Die konkrete Ausgestaltung der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung überließ Tillich den Fachleuten und Politikern".

Zwischen der "Einführung", die nach einer langen Besprechung von Ergebnissen oder Defiziten der Exilforschung in der Begründung des Untersuchungsthemas kulminiert, und der "Schlussbetrachtung" liegt Kapitel 2. Dieses ist chronologisch aufgebaut und in 13 Abschnitte unterteilt, die jeweils ungefähr 30 bis 60 Seiten umfassen. Nach Abschnitt 2.1, "Paul Tillich und das andere Deutschland" - einem Abriss der im weiten Sinne politischen Aktivitäten der verschiedenen Organisationen und Persönlichkeiten im Exil bis August 1939, in dem bestehende Forschungsergebnisse teilweise durch Archivalien ergänzt werden, die erst in den letzten Jahren zugänglich geworden sind – folgen: Die Darstellung von Ideen über ein "Deutschland nach Hitler" bis zur Atlantik Charta, eine Erörterung der "Chancen und Grenzen deutscher Exilpolitik in den USA" nach Eintritt des Landes in den Krieg im Dezember 1941 und eine bis zur Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland in Moskau durchgezogene Darlegung der Diskussionen zur Frage "Frieden mit ‚Deutschland ohne Hitler’?" innerhalb des Exils wie innerhalb der amerikanischen Administration und der inzwischen eingerichteten und in Fachbereiche aufgeteilten amerikanischen Informations-, Geheim- und Propagandadienste. Erst mit Abschnitt 2.5, "Das Thomas-Mann-Komitee", beginnt die unmittelbare Vorgeschichtes des Council for a Democratic Germany. Die eigentliche Geschichte des Council wird von der Gründung, der "Reaktion" darauf und der "Zusammensetzung und Organisation" bis zur Konferenz von Potsdam im Juli/August 1945, die "Ende und Auflösung" einleitete (Abschnitt 2.12), verfolgt. Minuziös werden die Reaktionen der Council-Mitglieder auf die "Landung der Alliierten " und das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 sowie die Entwicklungen "Vom Morgenthau-Plan bis zur Konferenz von Jalta" im Februar 1945 in den Wechselwirkungen zwischen den in sich nicht immer einigen amerikanischen Behörden und den Emigranten in den USA im Allgemeinen und den Überlegungen, Planungen und Debatten im Council im Besonderen ausgebreitet. Keine Zusammenkunft, keine Meinung, die mit (einer der) zahlreichen Quellen belegt werden kann, wird ausgelassen. Man kann die verschlungenen, oft widersprüchlichen Entwicklungen sozusagen von Tag zu Tag, von Ereignis zu Ereignis verfolgen. Hier liegt das große Verdienst der Dissertation. Abschnitt 2.13 zeigt die vom Council und von kleinen "Nachfolgeorganisationen" unabhängige und unbeeinflussbare Nachkriegsentwicklung in Deutschland unter militärischer Besatzung und fragt nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Rückkehr der politisch motivierten Emigranten, ihren eventuellen Tätigkeiten in Deutschland oder zeigt die teilweise resignativen Beobachtungen aus dem zum Daueraufenthalt gewordenen Exil in den USA auf.

Abschnitt 2.11 endlich behandelt "Die Arbeit in den Ausschüssen: Vorstellungen von einem demokratischen Wiederaufbau Deutschlands". Beim Lesen dieses Abschnitts und des Anhangs, in dem die "Zusammensetzung der Komitees und Ausschüsse" sowie die "Denkschriften, Memoranden, Richtlinien und Vorschläge" noch einmal kurz in ihren Werdegängen geschildert werden, erreichte mein Befremden über die Arbeitsweise der Autorin ihren Höhepunkt. Sorgfältig vermeidet sie, wenn’s irgend geht, die Literatur zu zitieren, die nun wirklich neue Ergebnisse gebracht und Wege zu weiterer Forschung gewiesen hat. Lieber führt sie nur Quellen zum Beweis an, diese sind aber in der relevanten Forschungsliteratur zum größten Teil auch ausgewertet und nachgewiesen; oder sie beruft sich auf (ideologisch) überholte oder marginale Studien, während sie die umfassende(re)n, direkt zur Sache dienlichen negiert. So zitiert sie auf S. 393-394, Anm. 3 (worin übrigens zwei Fehler enthalten sind: Schreiner war nie Mitglied des Volksfrontausschusses, und einen Bezug zu Schwarzschilds Verfassungsentwurf, der schon 1936 mehrheitlich als reaktionär bestempelt worden war, stellten die Council-Mitglieder gewiss nicht her), zu den Entwürfen von Leopold Schwarzschild, Georg Bernhard und Emil J. Gumbel, die zur Konferenz deutscher Emigranten vom 2. Februar 1936 im Pariser Hotel Lutetia fertig gestellt waren, eine Seite aus Klaus Mammach, "Widerstand 1933-1939. Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandbewegung im Inland und in der Emigration", Köln 1984. Dabei sind diese und eine Reihe anderer Dokumente vollständig abgedruckt in dem Buch der Rezensentin "Volksfront für Deutschland? Bd. 1: Vorgeschichte und Gründung des ‚Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront’, 1933-1936" (Frankfurt/M. 1977), das Petra Liebner in ihre Bibliografie aufgenommen hat und ihr somit bekannt sein sollte. In gleicher Weise verfährt die Autorin bereits in den vorhergehenden Abschnitten mit anderen anerkannten Autoren und deren Arbeiten. In ihrer "Einführung " (S. 17) bemängelt sie Beschränkungen in dem von Ursula Langkau-Alex und Thomas M. Ruprecht herausgegebenen Band "Was soll aus Deutschland werden? Der Council for a Democratic Germany in New York 1944-1945. Aufsätze und Dokumente" (Frankfurt/M. – New York 1995), ohne sich zu realisieren, dass ein größtenteils auf die Rahmenbedingungen und die Ergebnisse der Arbeit des Council focussierter Aufsatz- und Dokumentenband inhaltlich und methodisch andere Schwerpunkte setzen muss als eine Monographie. In diesem gut drei Jahre vor der Fertigstellung und gut fünf Jahre vor der Überarbeitung der vorliegenden Dissertation erschienenen Buch sind die Ausschüsse und Unterkomitees jedoch in ihrer personellen Zusammensetzung und in ihren Arbeiten im Wesentlichen aus denselben Quellen rekonstruiert wie bei Liebner (auch wenn sie teilweise in verschiedenen Archiven aufbewahrt werden).

Die Autorin kann allerdings, wie bereits gesagt, auf Grund ihrer erweiterten Quellenbasis Interna über Diskussionen usw. beitragen und Ergänzungen anbringen. Die Programme und Entwürfe, die Liebner scheinbar aus den Quellen in den genannten Fundorten zitierend oder paraphrasierend bespricht, sind in "Was soll aus Deutschland werden?" in ihrer deutschen Fassung in extenso dokumentiert, amerikanische Übersetzungen sind erwähnt – kein Hinweis darauf bei ihr, ebenso wenig darauf, dass diese.von ausgewiesenen Fachleuten im Licht von Weimarer Traditionen, des US-amerikanischen und des Exil-Umfelds eingehend vorgestellt und analysiert sind. Lediglich sporadisch weist Liebner auf die eine oder andere Seite eines Beitrags in dem Band hin. Ein öfter gesetztes "siehe (auch)" und "vgl." wäre meiner Meinung nach vom wissenschaftlichen Standpunkt aus redlich gewesen, zumal Liebners Darstellung, ihre Einschätzungen auch der Leistungen, Schwächen und Defizite, der Chancen, Behinderungen und Anfeindungen des Council keine originellen Noten aufweisen; sie liegen auf "unseren" Linien. Wohl kann Liebner das Gesamtbild des Council for a Democratic Germany mit Details vertiefen, Manches den politischen Biografien der Protagonisten hinzufügen, Paul Tillich stärker als homo politicus profilieren und last but not least einen fassettenreichen Einblick in die US-amerikanischen Konzeptionen und Konfusionen von Deutschland-Politik vermitteln. Insofern entspricht dies ihrem gestellten Untersuchungsthema: Eine Zusammenschau des Wirkens des Theologen und Philosophen Paul Tillich und (von ‚Vorläufern’ und ‚Vordenkern’) des Council for a Democratic Germany im Kontext der bündnispolitischen und ideologischen Entwicklungen und programmatischen Vorstellungen innerhalb des deutschen antifaschistischen Exils in den USA, verstanden als Teil der deutschen Geschichte und als Teil der Politik der Vereinigten Staaten vor allem zwischen 1941 und 1945. Das Verständnis des Exils als genuiner Teil der Geschichte des Herkunftlandes wie des Asyllandes ist übrigens in Fachkreisen seit längerem unbestritten.

Ursula Langkau-Alex, Amsterdam





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