ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sebastian Cwiklinski, Wolgatataren im Deutschland des Zweiten Weltkriegs. Deutsche Ostpolitik und tatarischer Nationalismus (= Islamkundliche Untersuchungen, Band 243), Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2002, 142 S., kart., 33 EUR.

Der Zerfall der Sowjetunion 1991 hat der Weltöffentlichkeit deutlich gemacht, dass diese ein multiethnischer und kein "russischer" Staat gewesen war. Seit dieser Zeit wendet sich verstärkt das Interesse der Osteuropa-Historiker der Geschichte der nichtrussischen Sowjet-Nationalitäten zu, und innerhalb dieser – heute teilweise selbstständigen – Völker besinnt man sich verstärkt auf die durch russische bzw. kommunistische Herrschaft verschüttete eigene Vergangenheit. Dort nimmt die Rolle der Nationalitäten während des Zweiten Weltkrieges, die Frage nach ihrer Loyalität zum Sowjetstaat und die vielfach zu beobachtende Bereitschaft ihrer Angehörigen zur Kollaboration mit den Deutschen eine wichtige Stellung ein. Dieses Themas am Beispiel der (Wolga-)Tataren nimmt sich die aus einer an der Freien Universität Berlin eingereichten Magisterarbeit hervorgegangene Studie von Sebastian Cwiklinski an.

Sie ist anspruchsvoll, da sie nicht nur besondere Sprachkenntnisse (Russisch, Tatarisch/Türkisch) voraussetzt, sondern auch das Eindringen in eine hierzulande wenig bekannte Materie, die Kenntnis schwer erreichbarer Literatur und gründliche Quellenstudien erfordert. Zusätzlich zu den bisher bekannten Quellen, die sich größtenteils auf Akten von Reichsministerien und NS-Dienststellen während Zweiten Weltkrieges beschränken und sich überwiegend im Bundesarchiv und im Militärarchiv Freiburg befinden, hat der Verfasser auch Aktenmaterial einsehen können, das von früheren DDR-Archiven aufbewahrt und unter strengem Verschluss gehalten wurde. Schließlich konnte er noch private Nachlässe auswerten sowie einige wenige, aber wichtige Zeitzeugen befragen und Publikationen (exil-)tatarischer und türkischer Historiker auswerten. Das Ergebnis dieser umfassenden Quellen- und Literaturarbeit ist eine überaus lebendige und interessante Studie über ein Thema, das gleichermaßen der deutschen und tatarischen Geschichte angehört.

Im ersten Teil beschreibt Cwiklinski das Verhältnis des "Dritten Reiches" zur Nationalitätenfrage der Sowjetunion. Die an damaligen deutschen Hochschulen und parteiamtlichen Stellen angesiedelten "Auslandswissenschaften" und besonders die "Ostforschung" hatten frühzeitig ihr Augenmerk auf die sowjetische Nationalitätenfrage als mögliche Schwachstelle der UdSSR gerichtet und wurden daher teilweise in die Kriegsvorbereitung einbezogen. Tatarische und andere nicht-russische Emigranten aus der Sowjetunion wurden als Fachkräfte herangezogen. Dabei herrschte keineswegs Klarheit, in welcher Form man sich der Nationalitätenfrage bedienen wollte. In den Planungen für ein großes deutsches Kolonialreich im Osten waren die Angehörigen dieser Völker als künftige Untertanen vorgesehen, während andere, von der NS-Generallinie abweichende Vorstellungen unabhängige, ethnisch konzipierte nicht-russische Staaten vorsahen.

Der Überfall auf die Sowjetunion 1941 konfrontierte die deutschen Stellen jedoch mit ganz anderen Problemen – mit der Gefangennahme von Millionen Sowjetsoldaten, unter ihnen in hohem Maße Nicht-Russen. Mehrere deutsche Stellen konkurrierten um die Zuständigkeit für diese Völker – die Wehrmacht, das neu gegründete Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (Ostministerium), das Auswärtige Amt, das Propagandaministerium sowie SS, Gestapo und SD und eine Reihe nachgeordneter Dienststellen. Aus Kriegsgefangenen stellte die Wehrmacht Hilfstruppen zusammen, darunter eine Wolgatatarische Legion. In dieser sowie in anderen Einheiten dienten etwa 25.000 Soldaten. An der Freiwilligkeit dieser Einheiten äußert der Verfasser berechtigte Zweifel. Wohl lassen sich antikommunistische und auch nationalistisch-antirussische Motive ausmachen, aber das elende Dasein in Gefangenenlagern dürfte in Verbindung mit rassistischer Diskriminierung den Entschluss zum Eintritt in Freiwilligenverbände zumindest deutlich erleichtert haben. Die offizielle NS-Politik gegenüber diesen Völkern, die ihnen ja gerade das Recht auf einen künftigen eigenen Staat absprach, wirkte auch im Einsatz der Legionäre demotivierend und letztlich kontraproduktiv.

Das formell federführende Ostministerium gründete "Leitstellen" als zuständige Dienststelle für die einzelnen Nationalitäten, darunter die "Tatarische Leitstelle", zu deren Aufgaben Propaganda, politische und kulturelle Betreuung unter der Legion und Arbeitseinheiten gehörte, die Herausgabe von tatarischen Publikationen, Radiosendungen in tatarischer Sprache sowie eine gewisse soziale Betreuung (Urlaubsheime). Neben diesen deutschen Dienststellen, in denen naturgemäß Tataren (Alt-Emigranten ebenso wie ehemalige Kriegsgefangene) mitwirkten, bildete sich als eigene Interessenvertretung der sog. Tatarische Kampfbund, der auch Angehörige anderer Nationalitäten des Wolga-Ural-Raumes einschloss (Baschkiren, Tschuwaschen, Mordwinen, Udmurten, Marier). Das NS-Regime achtete zwar peinlich darauf, dass derartige Zusammenschlüsse nicht als eigenständige Nationalkomitees anerkannt würden. Allerdings hatten Tataren es hier leichter als die stammverwandten Krimtataren oder kaukasische Völker, weil Tatarstan nicht Gegenstand der deutschen Kolonisationspläne war. Mit der erforderlichen Vorsicht propagierte dieser Kampfbund eigene nationale Ziele, darunter im März 1944 auf einem Kongress in Greifswald. In der Rhetorik der Schriften des Kampfbundes finden sich sowohl Anlehnungen an Ideologie und Sprache des Dritten Reiches als auch Anknüpfungen an die nationale Erneuerungsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg 1917.

Freilich gab es auch Widerstand innerhalb der Tatarischen Legion. Berühmt und in der Sowjetunion später propagandistisch aufgebauscht wurde der Fall des Dichters Musa Gälil, der als Mitglied einer Widerstandszelle von der Gestapo festgenommen und im August 1944 in Berlin-Moabit hingerichtet wurde. Während die sowjetische Propaganda aus ihm einen kommunistischen Märtyrer machte, äußern Exil-Tataren seit jeher Zweifel an dieser Version und betrachten ihn als tatarischen Patrioten. Auch anderswo gab es Fälle von Widerstand und Desertion. So liefen Angehörige der Tatarischen Legion in Südfrankreich zur dortigen Résistance über. Vielfach wurden derartige Aktionen durch Misshandlungen von Seiten deutscher Offiziere ausgelöst oder durch die Einsicht, dass die Tataren letztlich vom Dritten Reich als bloßes Kanonenfutter missbraucht würden. Als die Niederlage von Stalingrad die bisherigen Kolonialpläne hinfällig machte, versuchte die SS mit einer neuen Konzeption die Nationalitäten als Trumpf auszuspielen, indem sie ihnen die Erfüllung ihrer nationalen Ziele versprach. Eine Kriegswende führte dies nicht herbei. Die Zusammenarbeit zwischen den nichtrussischen Nationalitäten und NS-Regime konnte, wie der Verfasser richtig resümiert, zu keinem konstruktiven Ergebnis führen, da man ihnen den Status als Völkerrechtssubjekte letztlich absprach, sie vielfach als "Untermenschen" schmähte und gemäß der NS-Rassenideologie diskriminierte.

Die etwa vierjährige Episode der deutsch-tatarischen "Zusammenarbeit" hatte eine lange, teilweise tragische Nachgeschichte. Angehörige der Legionen wurden von sowjetischer Seite zum Tode oder zumindest zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, sie und ihre Angehörigen waren jahrzehntelang als Kollaborateure des NS-Regimes diskriminiert. Die historische Bearbeitung des Themas war, wie der Verfasser im letzten Kapitel darstellt, in der Sowjetunion zahlreichen Beschränkungen ausgesetzt. Einerseits benutzte man Fälle wie den des Dichters Musa Gälil zur Pflege eines Sowjetpatriotismus und die Geschichte der Legionen, um nationalistische Tendenzen in den nicht-russischen Völkerschaften zu diskreditieren. Andererseits widersprach das verbreitete Vorhandensein nationaler Partikularismen und Autonomiebestrebungen dem offiziell propagierten Bündnis der kleineren Nationalitäten mit dem großen russischen "Brudervolk" und stellte somit ein streng bewachtes Tabu dar. Seit dem Zerfall der Sowjetunion wissen wir, warum. In ihrer Verfolgung unzuverlässiger Elemente bemühten sowjetische Stellen sogar die Stasi, die in ihren Akten – offensichtlich vergeblich – nach Belastungsmaterial suchte. Neuere Forschungen in Russland nach 1991, zumal von tatarischen Autoren, lassen sich nicht mehr in das Spannungsfeld von Anklage und Verteidigung abdrängen, sondern gehen mit dem Problem souverän und unverkrampft um.

Die frühe Auseinandersetzung mit dem Thema hatte im Westen oftmals apologetischen Charakter: Hätte man die Völker der Sowjetunion anders und besser behandelt, dann hätte dies vielleicht eine andere Kriegsentscheidung herbeigeführt. Erst später versachlichte sich die Sicht auf den Themenkomplex und ermöglichte ein komplexeres Verständnis der Nationalitätenfrage. Cwiklinskis Arbeit reiht sich hier in die sachorientierte Literatur ein. Seine realistische Einschätzung, dass der militärische und politische Einsatz der Tataren primär ein Instrument der deutschen Seite war und nur in sehr abgeschwächter Form ein tatarischer Selbstbehauptungsversuch, hat ihn ohnehin gegen Versuchungen einer falschen Überhöhung oder einer moralisierenden Anklage gefeit.

Es ist zu hoffen, dass die Studie des Verfassers weitere Forschungen über die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion und besonders während des Zweiten Weltkrieges anregt. Die Quellenlage ist – zumindest auf deutscher Seite – gut, und auch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion besteht ein verbreitetes Interesse an der eigenen Geschichte, die noch vor einem Jahrzehnt nur sehr eingeschränkt zugänglich war.

Patrik von zur Mühlen, Bonn





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