ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alfons Kenkmann/Christoph Spieker (Hrsg.), Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort Villa ten Hompel, Klartext Verlag Essen 2001, 372 S., geb., 19,90 EUR.

Ein erfreuliches Ereignis ist anzuzeigen: Ein rundum gelungener Begleitband zu einer überfälligen Ausstellung, die jetzt endlich auf Dauer zu sehen ist. Gemeint ist die Ausstellung "Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung", die im "Geschichtsort Villa ten Hompel" in Münster gezeigt wird, einem Gebäude mit überaus thematischem Bezug. Denn die Villa war von 1940 bis 1944 Sitz des Befehlshabers der Ordnungspolizei im Wehrkreis VI, der mit dem heutigen Land Nordrhein-Westfalen weitgehend identisch war. Von dieser Leitstelle aus wurde der regionale Einsatz der uniformierten Polizei koordiniert, wurde Obrigkeit im Unrechtsstaat konkret ausgestaltet. Zwischen 1953 und 1968 dann befasste man sich dort mit den Folgewirkungen; damals beherbergte die Villa ten Hompel das Dezernat für Wiedergutmachung im Regierungsbezirk Münster, das die Anträge ehemaliger Verfolgter des NS-Regimes prüfte und bearbeitete. Ein idealer Ort also für eine Gedächtnisstätte, die mehr sein will als Archiv, Museum oder Mahnmal, in der gleichermaßen erinnert und geforscht, gelehrt und gelernt werden soll, öffentlich reflektiert über die Verantwortung jener Institutionen an der Schnittstelle von Staat und Gesellschaft.

Die Dauerausstellung am authentischen Ort thematisiert sowohl diese historischen Aspekte als auch Fragen nach der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, nach Verdrängung, innerpolizeilicher und justizieller Aufklärung, nach Kontinuitäten und Brüchen im polizeilichen und bürokratischen Selbstverständnis. Ihre Exponate – etliche der gezeigten Fotos, Plakate und Dokumente sind im Bildteil des Begleitbandes farbig abgedruckt – kreisen um das in den 20er-Jahren etablierte Leitbild als "Freund und Helfer" und um die Verengung dieser Schutzengel-Funktion auf diejenigen, die zur "Volksgemeinschaft" gerechnet wurden, nach 1933. Sie widmen sich der ideologischen Aufladung der Polizei im nationalsozialistischen Maßnahmestaat, dem neuen Leitbild des Polizeisoldaten, der Aufstellung mobiler Polizeibataillone für den "auswärtigen Einsatz", der Verstrickung in den Genozid als Fußvolk der "Endlösung". Und sie beschäftigen sich mit der Entmachtung der Weltanschauungskrieger 1945, neuen Legendenbildungen, Schweigekartellen und Abspracheseilschaften, wenigen Gerichtsurteilen und einem Minimum an Schuldbewusstsein, kurzum: mit der Integration der Täter in die bundesrepublikanische Gesellschaft.

Diesen weiten Bogen durchs 20. Jahrhundert schlagen auch die 16 Aufsätze des Begleitbandes, auf die nur zum kleineren Teil hier eingegangen werden kann. Besonders erwähnenswert ist Thomas Köhlers Betrachtung über "weltanschauliche Schulung" durch Literatur, in der er Lesestoff für Polizeibeamte während des Dritten Reiches untersucht und dabei alle Qualitäten eines Historikers, Germanisten und langjährigen Journalisten aufblitzen lässt. Mit präziser Textanalyse seziert er die Romane eines Edwin Erich Dwinger und die Reportagen von Hans Richter und Helmuth Koschorke, die Kriegslektüre von Polizisten für Polizisten produzierten, und klopft das Narrativ auf seine ideologischen Implikationen ab. Sichtbar wird dabei eine ebenso eingängige wie subtile Form der Vermittlung weltanschaulicher Sichtweisen und Einstellungen. Köhlers Aufsatz ist ein überaus lesenswerter Beitrag zu dem sträflich vernachlässigten Thema "Schulung in SS und Polizei", deren Stellenwert völlig umstritten ist: So billigt ihr Goldhagen überhaupt keine, Browning nur eine geringe Bedeutung zu, während viele andere Schulung ohne konkrete Untersuchung geradezu als Zauberformel benutzen, um ideologische Durchdringung zu erklären.

Überaus lesenswert ist auch Florian Dierls organisationsgeschichtlicher Überblick über das Hauptamt Ordnungspolizei, das bislang noch überhaupt kein wissenschaftliches Interesse gefunden hat, obwohl es weitaus mehr Männer befehligte als fast alle sonstigen Spitzengliederungen im Himmler'schen Imperium. Christoph Spieker wiederum stellt in zwei Aufsätzen die Befehlshaber der Ordnungspolizei in Münster – die einstigen Hausherren also – vor und arbeitet den Typus des höheren Polizeioffiziers heraus, der als Angehöriger der jungen Frontgeneration vom Ersten Weltkrieg geprägt wurde, über die Freikorps in den Ersatzberuf des Polizeibeamten fand und nach 1933 begierig das neue Leitbild des Polizeisoldaten aufgriff. Spannend wie ein guter Kriminalroman liest sich Michael Okroys Aufsatz über die Ermittlungen gegen Angehörige des Polizeibataillons 309 und den Wuppertaler Bialystok-Prozess 1967/68. Auf breiter Quellenbasis arbeitet er die realen Hürden und Probleme der Ermittler heraus und belässt es nicht bei pauschaler Justizkritik.

Gleichwohl muss auf einige Fehler hingewiesen werden, die sich eingeschlichen haben: Ein Friedrich Claß war nie Leiter der Einsatzgruppe V in Polen (S. 208). Eine "Einsatzgruppe E (Belgrad)" gab es 1941 noch nicht, da diese erst 1943 eingerichtet wurde und nicht in Serbien, sondern in Kroatien operierte (S. 209). Ebenso wenig existierte ein "Chef der Sicherheitspolizei und des SD (CdS) Ostland" (S. 236). Dennoch ist der Band unterm Strich ein Gewinn, ein weiterer Vorstoß auf einem noch untererforschten Feld.

Klaus-Michael Mallmann, Ludwigsburg





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