ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Henrik Bispinck/Damian van Melis/Andreas Wagner (Hrsg.), Nationalsozialismus in Mecklenburg und Vorpommern, Thomas Helms Verlag, Schwerin 2001, 174 S., kart., 19 EUR.

Die Beschäftigung mit dem NS-Zeit aus lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektive hat eine lange, mindestens drei Jahrzehnte währende Tradition in der deutschen Geschichtswissenschaft. Dahinter steht der respektable Versuch, die Herrschaftsmechanismen, Transformations"erfolge" in Politik und Gesellschaft und nicht zuletzt die sozialen Voraussetzungen des Nationalsozialismus auf der Ebene der konkreten (auf Personen festlegbaren) örtlichen Machtstrukturen nachvollziehen und erklären zu können. Diese Forschung konzentriert sich daher vorrangig auf die Schnittstelle von Politik und Gesellschaft: auf die Parteien, Verbände, lokalen Honoratiorenschaften, Gewerkschaften, NS-Organisationen und ihre Rolle bei der Durchsetzung, Etablierung und Ausübung der nationalsozialistischen Herrschaft.

Zu den Regionen Mecklenburg und Vorpommern, in denen nicht zuletzt auf Grund der spezifischen ostelbischen Agrar- und Wirtschaftsstruktur besondere Bedingungen vorherrschten, liegt nun ein genuin sozialgeschichtlicher Sammelband vor. In nur sieben Beiträgen wird eine beachtenswerte Spannweite aufgemacht: Neben dem Rückhalt der NSDAP im bürgerlich-konservativen Milieu und der lokalen Herrschaftspraxis werden Korruptionsskandale, Wohnungsbau und Stadtplanung, Gutswirtschaft und – als zeitlicher Ausblick – die Rolle des Antifaschismus in der SBZ/DDR behandelt.

Bereits im ersten Beitrag von Helge Matthiesen "Die NSDAP als Kern der Volksgemeinschaft, bürgerlich-nationales Lager in Greifswald und die neue Partei" werden regionale Spezifika deutlich. Den Honoratioren der Stadt Greifswald waren Parteien und eine weltanschaulich fundierte Parteibindung überraschend fremd. Nur ein kleiner Teil hatte hier vor 1933 der DVP oder der DNVP angehört, von der DDP ganz zu schweigen. Das bescherte den Nationalsozialisten einerseits zwar wenige ideologische Vorbehalte gegen "ihre Partei", bedeutete aber auch fortwährende Widerstände gegen die Organisation der Lokalpolitik über eine Parteibürokratie. Offenbar war das seit einem Jahrhundert expandierende Parteienwesen nicht in dem Maße wie in urbaneren Regionen in das System stadtbürgerlicher Selbstverwaltung eingedrungen. Die im Titel des Aufsatzes angesprochene Frage, inwieweit die NSDAP den "Kern der Volkgemeinschaft" zu bilden vermochte, behandelt Matthiesen leider nur schematisch. Zur Unterstützung von Partei und NS-Staat durch Bauern, Landarbeiter, Arbeiter und kleinem Mittelstand präsentiert er kein Material. Der Verweis auf die Durchherrschung der Gesellschaft mittels der zahlreichen nationalsozialistischen Vorfeldorganisationen reicht hier sicher nicht aus.

Das Thema des nächsten Aufsatzes mutet zunächst recht eigentümlich an. Schließlich verrät Frank Bajohrs Untersuchung einer Korruptionsaffäre interessante Erkenntnisse über die Steuerung der Öffentlichkeit im Nationalsozialismus und damit über ein wesentliches Herrschaftsinstrument. Im Zuge der bevorzugten Lebensmittelversorgung der Opfer der Bombenangriffe von Lübeck und Schwerin im Frühjahr/Sommer 1942 war es zu massiven Unterschlagungen und Verschiebungen der wertvollen Güter gekommen. Als der daran beteiligte Gauamtsleiter Janowsky wenig später aufflog und der Rechtsnorm und -praxis entsprechend zum Tode verurteilt wurde, nahm die Bevölkerung dies zunächst als "Komödie" wahr, bis die Gauleitung sich entschied, Janowsky tatsächlich hinzurichten. Durch dieses öffentlichkeitswirksame "Bauernopfer" konnte der Anschein von Gerechtigkeit aufrechterhalten werden, der in dieser Phase der dramatischen Verschärfung der materiellen Not für den Rückhalt der Herrschaft in der Bevölkerung essenziell war. Die vielleicht zu unrecht an Regionalstudien geknüpfte Erwartung der Präsentation regionaler Besonderheiten wird hier schlicht nicht erfüllt. Zu unrecht besteht diese Erwartung zum Teil wohl insofern, als die räumliche Beschränkung nicht unbedingt regionale Spezifika herausarbeiten muss, sondern auch – wie das Beispiel der Korruptionsaffäre zeigt – den Blick auf wichtige Details erlaubt, die sonst leicht übersehen werden. Im Idealfall vermag Regionalgeschichte durch diesen Mikroblick als Initiator größer angelegter Spezialstudien zu wirken.

Mit der Thematisierung des Auseinanderklaffens von Anspruch und Wirklichkeit berührt auch Bernd Kastens Untersuchung von Wohnungsbau und Stadtplanung in Schwerin eher allgemeine Probleme nationalsozialistischer Politik und Ideologie. Da finanziell nicht verwirklichbare Wohnstandards zugrunde legt wurden – Doppelhaushälften mit 55 Quadratmetern und drei Zimmern, Küche und Bad – geriet eine als NS-Mustersiedlung konzipierte vorstädtische Siedlung Schwerins zum teuren, nie zu Ende geführten Prestigeobjekt. Ein solches deutete sich auch bei der Planung des Zentrums der Hansestadt an. Der zunächst an den Verlauf der mittelalterlichen Straßenführung angepasste Wunsch nach einer breiten Repräsentationsmeile artete nach jahrelangen Debatten zum Entwurf einer schnurgeraden Magistrale aus, die die hergebrachte Straßenführung völlig sprengte. Auch weil zu ihrer Verwirklichung mehrere jüngere öffentliche Gebäude wieder hätten abgerissen werden müssen, wurden diese überhöhten Planungen 1941 schließlich verworfen.

Die oft hervorgehobene wirtschafts-, sozial- und damit auch mentalitätsgeschichtliche Spezifik des agrarischen ostelbischen Raumes bzw. hier Mecklenburgs und Vorpommerns tritt dann in den folgenden Beiträgen wieder stärker hervor. Der erste der zwei Beiträge zur Gutswirtschaft verdeutlicht die ideologiekonforme und darüber hinaus volkswirtschaftlich geschickte Strategie, auf dem Land der seit dem Preisverfall der 20er-Jahre finanziell gebeutelten Großgrundbesitzer Neubauern anzusiedeln. Im Anschluss vermag Mario Niemanns allzu exegetisch geratene Rekonstruktion des Maschinisierungsgrades der mecklenburgischen Gutswirtschaft immerhin die Erkenntnis hervorzubringen, dass diese nur wenig hinter dem reichsweiten Modernitätsniveau hinterherhinkte. Wer hätte auch geglaubt, dass sich die Gutswirtschaft so lange hätte halten können, hätte sie die Einführung von Luftbereifung, Traktoren, Mähdreschern und anderen Neuerungen ignoriert?

Während Kyra T. Inachin in einer politischen Sozialgeschichte der NSDAP vor 1933 die Vorgeschichte des "Dritten Reiches" beleuchtet, wendet sich Damian van Melis‘ Beitrag über den Antifaschismus in der SBZ/DDR dem in der Forschung erst relativ frisch etablierten erinnerungskulturellen Umgang mit der NS-Zeit zu. War die pommersche NSDAP der 20er- und frühen 30er-Jahre trotz ihrer Erfolge auf Grund persönlicher Animositäten ein Stiefkind der Reichsleitung, so erscheint der Aufstieg dieser Regionalgruppe als erfolgreichere Variante der reichsweiten Entwicklung. Das äußerte sich schon früh in überdurchschnittlichen Wahlergebnissen, die aus der geschickten Einbindung der antikapitalistischen Landarbeiterschaft, des kleinstädtischen Mittelstands und junger Bürgerlicher resultierten.

Van Melis’ Beitrag zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik konzentriert sich auf die explizite Politik des "Antifaschismus" der SED und ihrer Bezirks- und Kreisleitungen. Er folgt damit jüngeren Forschungsergebnissen, die auf die bedeutende Rolle des Antifaschismus als zweite legitimatorische Basis der SBZ/DDR hinweisen. Sozialismus und Antikapitalismus reichten da nicht aus. Seinen Ausführungen zu den Mentalitäten der Masse der Bevölkerung werden in Zukunft eingehendere Studien folgen müssen, wenn er anführt, wie sehr dieser inhaltsleere Antifaschismus autoritären kleinbürgerlichen Einstellungen entgegenkam und durch zahlreiche individuelle Aufstiegskarrieren der ersten DDR-Generation in Partei-, Verwaltung und Wirtschaft in der Gesellschaft etabliert wurde. Hinsichtlich der ebenfalls angeschnittenen Kontrolle der Partei über die KZ-Literatur und des medialen Umgangs mit der Nazi-Vergangenheit darf man auf detailliertere Untersuchungen wie Simone Barcks Anfang 2003 erscheinende(n) "Antifa Geschichte(n)" gespannt sein.

Insgesamt handelt es sich um einen informativen Band. Wie bereits angedeutet ist das nicht zuletzt dem – zugleich etwas eklektisch anmutenden – Schneisenschlagen in das breite Spektrum sozialgeschichtlicher Themenfelder zu verdanken. Wohl aus diesem Grund haben es die Herausgeber auch vermieden, den Spezialstudien den sonst üblichen zusammenfassenden Aufsatz voranzustellen. Sinnvoller wäre ohnehin ein resümierender Epilog gewesen, der die hier recht plastisch zu beobachtenden Möglichkeiten und Grenzen regionalgeschichtlicher Forschung aufzeigt. Ungeachtet dessen darf der angezeigte Band als einer der ersten gelten, der sich dem Aufstieg und der Herrschaft des Nationalsozialismus in einer Region widmet, deren traditionelle starke Imprägnierung durch autoritäre und völkische Mentalitätsbausteine bereits in den 60er-Jahren erkannt wurde, doch bislang kaum entsprechende Studien nach sich zog.

Tobias Sander, Göttingen





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